Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Putins liebste Parade fällt aus
Moskau verschiebt Feier zum Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg
MOSKAU - Der Kreml hat die Siegesparade am 9. Mai wegen des Coronavirus verschoben. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin war es eine bittere Entscheidung.
Die Wahl falle ihm schwer, erklärte Putin am Donnerstag vor dem russischen Sicherheitsrat. „Der 9. Mai ist für uns ein heiliges Datum, das Leben jedes Menschen aber auch von unschätzbarem Wert.“Die Risiken, die mit der Corona-Pandemie verbunden seien, gäben ihm nicht das Recht, die Parade zum Tag des Sieges und andere Massenveranstaltungen in Angriff zu nehmen. Der Präsident ordnete an, die Vorbereitungen zur Militärparade auf dem Roten Platz und zu den Aufmärschen in den Regionen zu verschieben.
Für Putin war es eine der unangenehmsten Entscheidungen seiner Karriere. 75 Jahre nach der Kapitulation Nazideutschlands am 9. Mai sollte der Sieg besonders prunkvoll gefeiert werden, mit Paraden, Volksfesten, Prozessionen und Feuerwerken im ganzen Land. Die traditionelle Heerschau auf dem Roten Platz galt als zentrales kriegerisches Ritual der Festlichkeiten. „Jeder weiß“, sagt der Moskauer Militärexperte Alexander Golz der „Schwäbischen Zeitung“, „wie wichtig sie für Putin ist.“
Angesichts immer drastischerer Quarantänemaßnahmen spekulierte man in Moskau seit Wochen über eine Verschiebung. Aber die Proben für die Parade wurden fortgesetzt. Noch am Mittwoch verkündete der Parlamentarier Alexander Scherin: „Der 9. Mai ist ein heiliges Fest, das man nicht verschieben darf.“
15 000 Soldaten, 375 Fahr- und Flugzeuge, brandneue Schützenpanzerwagen, Flammenwerfer, Raketenund Artilleriesysteme sollten paradieren. „Dem russischen Publikum wollte Putin sich und sein Gefolge als Nachfolger der siegreichen Sowjetfeldherren präsentieren“, sagt Golz. „Dem Ausland wollte er zeigen, dass Russland den Supermachtstatus der UdSSR geerbt hat.“Auch kleinere ausländische Einheiten waren eingeladen, ebenso fast alle internationalen Spitzenpolitiker. Gäste wie Macron oder Steinmeier hätten sich bestens geeignet, um Russlands Öffentlichkeit glauben zu machen, die Welt erkenne Putins Führungsanspruch an, zumindest was die Interpretation des Zweiten Weltkriegs angeht.
Putin wirft Ost- und Westeuropa vor, sie wollten die Kriegsgeschichte umschreiben, er selbst verteidigte schon im Januar den deutsch-sowjetischen Pakt von 1939 und den gemeinsamen Angriff auf Polen lautstark, beschimpfte einen damaligen polnischen Diplomaten als „antisemitisches Schwein“. Aber die Pandemie erstickte die Debatte, auch ein groß angekündigter Artikel Putins über den Weltkrieg erschien nicht. Und die Parade kann nun auch nicht mehr als triumphaler Schlusspunkt eines von Wladimir Putin gewonnenen Historikerkriegs herhalten.
Putin konnte sich auf dem Roten Platz auch nicht als politischer Souverän Russlands feiern lassen. Die für April geplante Abstimmung über die Verfassungsänderungen, die ihm nach 2024 erneut erlauben, Präsident zu werden, musste man wegen des Coronavirus schon auf unbestimmte Zeit verschieben. Auch bitter für den 67-Jährigen: Nach dem 75. Jahrestag folgt als nächster wirklich runder Anlass für eine epochale Siegesfeier der 100. Jahrestag, bis 2045 müsste Putin noch fünf Präsidentschaftswahlen gewinnen.
Aber der Kreml will die Zeremonie auf jeden Fall nachholen. Nach russischen Medienberichten diskutiert man vor allem zwei Termine: Den 24. Juni, der Tag, an dem 1945 Stalin die erste Siegesparade abnahm. Oder den 3. September, er soll in Russland künftig als Datum des Weltkriegsendes begangen werden.
Beide Termine haben Pferdefüße. Der 24. Juni liegt sehr nah am 22. Juni, an dem nach Moskauer Zeitrechnung die Wehrmacht 1941 die UdSSR überfiel, im vaterländischen kollektiven Gedächtnis eher katastrophale Tage. Dazu ist ungewiss, ob die Seuche bis dahin unter Kontrolle ist.
Andererseits sprechen sich selbst kremlnahe Menschenrechtler dagegen aus, den 3. September zum „Tag des Kriegsruhms“zu erklären: 2004 kamen am 3. September nach einer Geiselnahme in einer Schule im nordkaukasischen Beslan mehrere Hundert Kinder ums Leben. Wirklich fulminant wird Putins Siegesfest dieses Jahr wohl nicht.