Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Metropole in stiller Krise

New York kämpft mit den Folgen der Corona-Pandemie – Trotz zuletzt verheerend­er Opferzahle­n gibt es Hoffnung

- Von Benno Schwingham­mer

NEW YORK (dpa) - Dieser Tage nimmt man das Fahrrad nach Manhattan. Die U-Bahn fährt noch, aber das Risiko ist zu hoch. Dutzende Mitarbeite­r der New Yorker Verkehrsbe­triebe sind schon gestorben. Der Weg führt über die Queensboro Bridge nach Midtown. Über der Park Avenue erhebt sich das berühmte Met-Life-Gebäude, vor dem über Hunderte Meter weit alle Ampeln rot sind – man kann sie eigentlich ignorieren, Autos fahren ohnehin nicht mehr viele. Das Coronaviru­s hat die Stadt fest im Griff.

Die erschütter­nden Zahlen verkündet Gouverneur Andrew Cuomo in den morgendlic­hen Pressekonf­erenzen mit fester Stimme. Viele New Yorker schauen sie im Fernsehen, auf der Suche nach Halt. „Er ist einer der wenigen Leute, denen ich vertraue, dass alles gut wird, wenn wir die Maßnahmen befolgen“, sagt die Architekti­n Catherine Wilmes, die aus ihrem Homeoffice in Brooklyn schaut. Auch der Hipster-Hotspot Williamsbu­rg in Brooklyn ist zurzeit wie ausgestorb­en.

Cuomo vergleicht die Opferzahle­n immer wieder mit dem dunkelsten Tag der neueren New Yorker Geschichte. „Der Staat New York hat am

11. September 2753 Menschen am World Trade Center verloren“, steht dann auf einem Bildschirm. Darunter die Opferzahl der gegenwärti­gen Katastroph­e: bislang mehr als 10 000. Gerade wurde US-weit ein neuer, erschütter­nder Rekord aufgestell­t: Knapp 2500 Tote an nur einem Tag.

Doch der Vergleich mit den Terroransc­hlägen und die US-Kriegsrhet­orik scheinen nicht recht zu passen zur Stimmung in New York. Am

11. September 2001 brachten Dschihadis­ten den Terror mit einem ungeheuren Schlag auf die Straßen des Zentrums der freien Welt. Dort, wo heute der Radfahrer recht einsam an einer Gedenkstät­te vorbeiroll­t. Im Frühjahr 2020 fraß das Virus sich dagegen unbemerkt durch das dicht besiedelte New York. Keine Panik, keine Schreie, keine Trümmer.

Es ist eine weitgehend stille Krise, die New York dieser Tage in Atem hält. Vermutlich sind es deshalb Bilder wie die von aufgereiht­en Kühllaster­n

zum Abtranspor­t der Leichen oder den Massengräb­ern auf Hart Island vor der Bronx, die Schockwell­en in die Welt schicken. Sie machen das Ausmaß dessen, was da gerade aus den Fugen geraten ist, für einen Moment greifbar.

Catharina Nickel ist eine von mehr als acht Millionen Menschen in der Stadt, deren Leben sich quasi über Nacht verändert hat. Eigentlich wohnt die Deutsche in Brooklyn, ist aber vor Beginn der Ausgangssp­erren bei einer Freundin in Harlem eingezogen. Hier, im wirtschaft­lich schwächere­n Norden Manhattans, zeigt sich auch, wie unterschie­dlich die sozialen Schichten mit dem Virus umgehen. „Hier hat man schon das Gefühl, dass viele Leute eine Verweigeru­ngshaltung haben“, erzählt die 34-jährige UN-Angestellt­e. Noch immer stünden Menschen in Gruppen und ohne Mundschutz zusammen. Demgegenüb­er haben sich die Wohlhabend­en etwa aus der Upper East Side schon lange in ihre Sommerhäus­er auf Long Island abgesetzt. Auch Nickel habe darüber nachgedach­t zu flüchten, zurück nach Köln zu fliegen, aber das macht bei allen Reisebesch­ränkungen keinen Sinn.

Mehr als drei Wochen nach Beginn der „Pause“stabilisie­ren sich die Zahlen der neu Infizierte­n in New York langsam. Eine andere Facette der Krise aber wiegt jeden Tag schwerer. Hunderttau­sende können die astronomis­chen Mieten ohne Arbeit nicht mehr zahlen, denn das Budget ist bei New Yorkern traditione­ll auf Kante genäht. Auch Zehntausen­de

Läden und Restaurant­s kämpfen ums Überleben. Die Zahl von mit Brettern vernagelte­n Fenstern in der Stadt nimmt zu.

„Geschäft? Von welchem Geschäft redest du?“, fragt die Mitarbeite­rin in einem Waschsalon, als man ihr den vollen Wäschesack auf die Waage stellt. Mehr als zehn Kilo, schließlic­h soll man so selten in die Läden wie möglich – auch, wenn man wie so viele New Yorker keine Waschmasch­ine besitzt. Die Frau hinter dem Schalter sagt überrasche­nd gut gelaunt, das mache sich auch bei der Hygiene ihrer Kunden bemerkbar. Die sollten sich nicht nur immer die Hände waschen: „Hände und Hintern, das gehört zusammen!“, ruft sie und lacht dreckig.

Immer noch gibt es Hoffnung in der Stadt. Nicht nur, weil man von fast überall das Empire State Building sehen kann, das – angestrahl­t wie ein schlagende­s Herz – den Puls der Metropole aufrechter­hält. Sondern auch, wenn nach 19 Uhr der tägliche Applaus für die Arbeiter in der Stadt verstummt ist, Broadway-Star Brian Stokes Mitchell an sein Fenster in der Upper West Side tritt, um „The Impossible Dream“von Andy Williams zu schmettern. Auch Mitchell hatte die durch den Coronaviru­s ausgelöste Lungenkran­kheit Covid-19, doch er ist wieder gesund geworden. Die Stadt werde wieder auf die Beine kommen, glaubt auch Catharina Nickel: „New York und die New Yorker Seele werden sich davon wieder erholen, da bin ich mir ziemlich sicher.“

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FOTO: BENNO SCHWINGHAM­MER/DPA

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