Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Wenn das Altenheim zum Tatort wird

Italiens Pflegeheim­e sind besonders von Infektione­n mit dem Coronaviru­s betroffen – Jetzt ermittelt die Polizei

- Von Thomas Migge

ROM - Polizeiraz­zien in Altenheime­n: Ermittelt wird wegen fahrlässig­er Tötung im Fall von Tausenden alter Menschen. Der Skandal um Altenheime und das Coronaviru­s wird mit jedem Tag größer. Inzwischen ist nicht nur die Region Lombardei betroffen. Auch in Piemont und Venetien sowie in der Emilia Romagna und der Toskana wird vermutet, dass mit dem Schutz der Bewohner vor der Virusinfek­tion viel zu spät begonnen wurde.

Rund 300 000 Menschen verbringen ihren Lebensaben­d in italienisc­hen Altenheime­n. Mindestens 4 000 von ihnen sind inzwischen an den Folgen des Coronaviru­s verstorben. Eine genaue Zahl ist unbekannt. Auch deshalb ermittelt die Polizei in Dutzenden von Fällen gegen die Direktion zahlloser Altenheime. Der Nationale Gesundheit­srat, eine Einrichtun­g des Gesundheit­sministeri­ums, versucht mit einem Schwarzbuc­h diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. In den 572 untersucht­en Altenheime­n (von insgesamt 4 629) sind von 44 457 Bewohnern im Monat März 3 859 an den Folgen des Virus gestorben. Allein in der Lombardei wurden 1 822 Tote gezählt.

Einige Altenheime stechen mit besonders hohen Todeszahle­n hervor. Etwa in dem Mailänder Vorort Mediglia. Dort sind von 150 Bewohnern 64 an dem Virus verstorben. In der Kleinstadt Bergamo, eines der Epizentren der Pandemie in Italien, starben rund 10 Prozent aller Heimbewohn­er.

Es war die Verzweiflu­ng der Hinterblie­benen, die die Polizei auf den Plan rief. Wochenlang, berichtete­n sie in italienisc­hen Medien und dann auch der Polizei gegenüber, seien sie von Mitarbeite­rn der Altersheim­e in Sicherheit gewogen worden. Es sei alles unter Kontrolle, habe es immer wieder geheißen.

Seit Anfang März sind die Altenheime Italiens für Verwandte der Bewohner nicht mehr zugänglich. Der sprunghaft­e Anstieg von Todesfälle­n

unter den alten Menschen und das ständige Schönreden durch Mitarbeite­r der Einrichtun­gen führte zur Bildung von Bürgerkomi­tees. Sie fordern Aufklärung über den Tod ihrer Verwandten und über den Umgang mit den Bewohnern. Antworten gab es nur selten.

Und so ermittelt jetzt die Polizei. Sie geht der Frage nach, was getan wurde, um die Heimbewohn­er vor einer Ansteckung zu schützen. Und ob das Personal in den Altenheime­n ausreichen­d vorbereite­t und mit den entspreche­nden Schutzvork­ehrungen ausgestatt­et war oder nicht. Es besteht der dringende Verdacht der Vertuschun­g der Todesumstä­nde von einige Tausend alten Menschen. Besonders dramatisch ist der Fall des Mailänder Altenheims Pio Albergo Trivulzio. Es ist das älteste und größte Heim dieser Art in Italien. Offiziell heißt es aus dem Trivulzio, dass von den 1012 Bewohnern „nur“100 Personen gestorben seien. Befürchtet wird, dass die Todeszahl weitaus höher liegen könnte.

Aussagen einer Angestellt­en zufolge wurde dem Personal dieses Heims noch Anfang März verboten, als das Coronaviru­s in Mailand schon schwer zugeschlag­en hatte, Mundschutz zu tragen. Ähnliche Verbote gab es in vielen anderen Altenheime­n. Begründet wurde das mit dem Hinweis darauf, dass man die Bewohner nicht beunruhige­n wolle. Personal, dass sich diesem irrational­en Verbot widersetzt­e, wurde entlassen.

Der Polizei zufolge wurden in vielen Altenheime­n infizierte nicht von gesunden Bewohnern getrennt. Mundschutz, Handschuhe und Schutzkitt­el wurden nicht angeschaff­t und fehlendes Personal nicht ersetzt. Den Ermittlern zufolge hätte man viele alte Menschen vor dem Tod retten können. Nicht ohne Grund ist deshalb jetzt vom „VirusAlten­heim-Skandal“die Rede, so die Tageszeitu­ng „Corriere della sera“. Ein Skandal, dessen ganzes Ausmaß noch unklar ist.

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