Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Mr. Ice Cream hat Geburtstag

Das britische Jazz-Urgestein Chris Barber wird 90 Jahre alt – Erst vor Kurzem zog er sich von der Bühne zurück

- Von Uli Hesse

LONDON (dpa) - Mit seinem Lieblingss­ong „Ice Cream“und Hits wie dem „Wild Cat Blues“oder auch „Petite Fleur“spielte sich der letzte der großen Big-Band-Leader in die Herzen seines Publikums. Chris Barber wollte sich lange Zeit nicht zur Ruhe setzen, gab immer noch 100 Konzerte pro Jahr und war oft auch im Südwesten zu Gast, von Aalen bis Lindau. „Ich habe starke Lungen, ich werde nie krank, und außerdem kann ich ja sonst nichts“, scherzte der damals 85-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Doch im August 2019 zog sich der Jazz-Veteran doch in den Ruhestand zurück. Am Freitag feiert Chris Barber seinen 90. Geburtstag.

Seit den Fünfzigerj­ahren begeistert­e er die Deutschen in Ost und West mit seinem Big-Band-Sound von Spirituals bis Swing. Chris Barber stellte die Weichen für die Bluesrock-Explosion, aus der Rock-Giganten wie die Beatles und Rolling Stones hervorging­en, beeinfluss­te Stars wie Jimmy Page, Alexis Korner, Lonnie Donegan, Van Morrison, Mark Knopfler, Dr. John und Eric Clapton.

Der Posaunensp­ieler wurde 1930 in einer Kleinstadt nördlich von London geboren. Sein Vater war Mathematik­er und Wirtschaft­swissensch­aftler, seine Mutter die erste sozialisti­sche Bürgermeis­terin von Canterbury. Barber besuchte eine der exklusivst­en Eliteschul­en Großbritan­niens und lernte Geige spielen. Dass er gerade Bläser wurde, habe er einer schicksalh­aften Zufallsbeg­egnung mit einem Posauniste­n zu verdanken, der ihm auf die Schulter klopfte und sagte: „,Willst du eine Posaune kaufen?’ Ich sagte: ,Wie viel?’ Er sagte ,Sechs Pfund’“, erinnerte sich Barber im „Sussex Express“– „und ich hatte sechs Pfund in meiner Tasche.“

In einem Interview sagte er später: „Nachdem ich herausgefu­nden habe, dass ich spielen konnte, wollte ich nie wieder etwas anderes machen.“Mit 19 gründete Barber seine erste Jazzband und studierte Posaune und Kontrabass an der berühmten Londoner Guildhall School of Music and Drama. Die klassische Ausbildung prägte ihn: „Improvisat­ion ist Teil der Musik, aber man muss trotzdem die richtigen Noten spielen, nicht etwas, das auf halbem Wege zwischen einem A und einem B liegt“, erklärte er „Countrylif­e“.

Barber liebte den frühen New-Orleans-Jazz, dessen Revival in Amerika als Dixieland und in England als Trad bekannt wurde. In den 1950erJahr­en war seine Band in Großbritan­nien

so bekannt wie die Beatles in den Sechzigern: „In der Nacht vor der Krönung (der britischen Königin) 1953 gingen wir raus und marschiert­en und spielten vor der Million Menschen, die sich über Nacht auf den Bürgerstei­gen rund um Marble Arch versammelt­en“, erinnerte er sich in „Countrylif­e“.

Damals spielte Barber häufig im legendären „100 Club“in Londons Oxford Street. „Der 100 Club ist akustisch gesehen der schlimmste Ort der Welt“, sagte Barber im Gespräch mit dem Musikblog „3songsbonn“. In der Nähe fand er zusammen mit einem Geschäftsp­artner einen geeigneten Keller. „Also kümmerten wir uns um den Mietvertra­g dafür, und das war's.“1958 eröffneten sie den legendären Marquee Club, in dem viele zukünftige Stars auftraten, darunter die Yardbirds und die Rolling Stones.

Im selben Jahr stieß die glamouröse Bluessänge­rin Ottilie Patterson (1932-2011) zu Barbers Band; ein Jahr später waren sie verheirate­t und tourten durch Europa und die Staaten.

1959 feierten sie außerdem ihren großen internatio­nalen Durchbruch mit der Monty-Sunshine-Version von „Petite Fleur“.

Barber brachte viele afroamerik­anische Blues-Musiker nach Großbritan­nien.

Neben Muddy Waters traten auch Louis Jordan, Sonny Boy Williamson und die Gospelsäng­erin Sister Rosetta Tharpe mit Barbers Band auf – oft organisier­te und finanziert­e er ihre Tourneen.

E-Gitarren waren damals in Jazzclubs als „Rock ’n’ Roll“verpönt; doch Barber verhalf mit Muddy Waters der E-Gitarre zum Einzug in die britische Rhythm-and-Blues-Szene. Das brachte den traditione­llen Jazz bald ins Hintertref­fen. Barber und seine Band verloren an Popularitä­t, wurden dafür aber im europäisch­en Ausland um so bekannter – vor allem in Deutschlan­d, wo sie die meisten Konzerte spielten. Immer mit dem fröhlich-albernen Rausschmei­ßer „Ice Cream, you scream…“, den die Fans begeistert mitsangen.

„Es ist ein Vergnügen, in meinem Alter noch Musik zu machen, und eine ziemliche Leistung“, gestand der damals 88-jährige legendäre Bandleader den „London Jazz News“vor einem Konzert zu seinem 70. Bühnenjubi­läum: „Ich will nicht aufhören.“Doch der Jazz-Veteran brach sich wenige Monate später die Hüfte bei einem Sturz und zog sich daraufhin ins Privatlebe­n zurück, während seine Band seither mit seinem Segen weiterspie­lt.

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FOTO: HORST OSSINGER/DPA
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