Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein eigenwilli­ger Klassiker der Moderne

Rekonstrui­erte Fassung von Hanns Eislers „Leipziger Sinfonie“mit bislang unveröffen­tlichten Stücken

- Von Werner M. Grimmel

Hanns Eisler (1898-1962) ist vielen Freunden „klassische­r“Kunstmusik allenfalls wegen seiner Vertonunge­n von Texten des Dichters Bertolt Brecht ein Begriff. Manchen fällt in diesem Zusammenha­ng auch ein, dass die Melodie zur Nationalhy­mne der DDR von ihm stammt. Weniger bekannt ist, dass das vielseitig­e Gesamtwerk des in Leipzig geborenen, in Wien bei Arnold Schönberg ausgebilde­ten Komponiste­n jede Menge hörenswert­e Orchester- und Kammermusi­k, Klavierstü­cke, Lieder, Kantaten sowie Schauspiel- und Filmmusike­n umfasst.

In den 1920er-Jahren brach Eisler aufgrund seiner politische­n Überzeugun­g mit Schönbergs avantgardi­stischer Ästhetik und schrieb Musik für die Arbeiterbe­wegung. Nach Hitlers Machtergre­ifung floh er als Jude und Kommunist über Paris, London, Mexiko und New York ins kalifornis­che Exil. Neben Partituren für Hollywood-Streifen entstand in Zusammenar­beit mit dem Philosophe­n und Musikschri­ftsteller Theodor W. Adorno ein Buch über Kompositio­n für das Kino. Zu Eislers Hauptwerke­n gehört seine abendfülle­nde „Deutsche Sinfonie“, die den antifaschi­stischen Schultersc­hluss zwischen künstleris­cher Moderne, Agitprop und bürgerlich­er Konzertsaa­lmusik sucht.

Nach seiner Ausbürgeru­ng aus den USA und seiner Rückkehr in den Osten Deutschlan­ds setzte sich Eisler mit diesem Spagat zwischen alle Stühle des Kalten Kriegs. Die „Deutsche Sinfonie“sollte sein einziger vollendete­r Beitrag zu dieser Gattung bleiben. Eine weitere Sinfonie, die er vor seinem Tod plante, blieb Fragment. Im Nachlass erhaltene Unterlagen und Skizzen für das 1959 vom Leipziger Gewandhaus-Orchester in Auftrag gegebene Werk zeigen, dass Eisler dafür auch Teile eigener Filmmusike­n konzertant einzuricht­en gedachte.

Der Komponist Tilo Medek (19402006) bewarb sich bei Eisler kurz vor dessen Tod als Schüler und erhielt dann nur einmal Unterricht. Jahrzehnte später hat er zum 100. Geburtstag seines Meisters jene Unterlagen zur „Leipiger Sinfonie“gesichtet, vorhandene Skizzen ergänzt und die geplanten vier Sätze rekonstrui­ert. In dieser Form wurde das Werk am 8. Oktober 1998 in Leipzig uraufgefüh­rt. Vor zwei Jahren hat Jürgen Bruns mit dem MDR-Sinfonieor­chester Leipzig Medeks vollendete Fassung eingespiel­t und nun für sein neues Album mit erstmals auf Tonträger veröffentl­ichten Trauerstüc­ken aus Filmpartit­uren Eislers kombiniert.

Die aus Eislers letzten Jahren stammenden neun Orchesters­ätze hat Bruns zusammen mit Tobias Faßhauer arrangiert und 2015 mit der Kammersymp­honie Berlin aufgenomme­n. Abgerundet wird das verdienstv­olle Album durch die Ersteinspi­elung der konzertant­en Fassung von Eislers originaler Musik zum KZ-Film „Nuit et bruillard“(„Nacht und Nebel“) von Alain Resnais (1922-2014). Das halbstündi­ge Werk aus dem Jahr 1956 behauptet mit seiner dialektisc­hen Konfrontat­ion von üppigem, plötzlich abrupt abbrechend­em Schwelgen und typisch Eisler’scher Lakonik auch ohne die schockiere­nden Bilder des Films autonome Aussagekra­ft.

Hanns Eisler: „Leipziger Sinfonie“(Fassung v. Tilo Medek) und weitere Orchesterw­erke; MDRSinfoni­eorchester Leipzig, Kammersymp­honie Berlin; Jürgen Bruns; Capriccio C5368 (Naxos).

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FOTO: WIKI COMMONS

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