Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Rauch aus Tschernobyl erreicht Kiew
TSCHERNOBYL (dpa) - Starker Wind hat den Rauch der Schwelbrände um das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl in die ukrainische Hauptstadt Kiew getrieben. Das Gebiet ist radioaktiv belastet. „In Kiew gibt es nur Rauch, keine Radioaktivität“, versicherte der Bürgermeister Vitali Klitschko am Freitag bei Facebook. Kiew liegt rund 70 Kilometer von der Tschernobyl-Sperrzone entfernt. Zuvor hatte die Stadtverwaltung dazu geraten, die Fenster zu schließen und nicht auf die Straße zu gehen.
RAVENSBURG - Deutschland ist bislang verhältnismäßig gut durch die Corona-Krise gekommen, die Zahl der Neuinfektionen sinkt. Jetzt muss die Wirtschaft wieder anlaufen, die Isolation schrittweise gelockert werden, sagt der Virologe Professor Thomas Mertens im Gespräch mit Daniel Hadrys. Er rechnet zeitnah mit Fortschritten bei möglichen Medikamenten gegen Covid-19 – Hoffnung auf einen baldigen Impfstoff macht er jedoch nicht.
Herr Professor Mertens, wie kommt Deutschland durch die Corona-Krise?
Wir sind bislang in Deutschland vergleichsweise gut durch die Epidemie gekommen. Das ist auch im Vergleich mit anderen Ländern recht deutlich zu erkennen. Auch die internationale Presse schreibt, dass Politik, Fachleute und Bevölkerung gemeinsam die richtigen Maßnahmen ergriffen haben. Die Rate der Neuinfektionen hat sich dadurch deutlich abgeflacht und liegt jetzt in dem angestrebten Bereich.
Wie kann es Ihrer Meinung nach nun weitergehen?
Wir werden diese Situation nicht endlos durchhalten können. Das hat viele Gründe. Die Wirtschaft muss wieder anlaufen. Natürlich muss man auch die Isolation der Menschen wieder lockern. Die Rate der Neuinfektionen wird dann sicher steigen. Ziel muss sein, sie weiterhin so steuern zu können, dass sie unsere medizinische Versorgung nicht überlastet. Die Risikogruppen müssen daher weiterhin geschützt bleiben. Ein weiteres Ziel muss auch sein, dass die normale Krankenversorgung, sowohl beim niedergelassenen Arzt als auch im Krankenhaus, wieder funktionieren kann. In manchen Kliniken ist die Versorgung der anderen Patienten durch die Covid-19-Erkrankten in den Hintergrund getreten. Irgendwann wird man auch die bisher abgesagten planbaren Operationen nachholen müssen.
Halten Sie die am Mittwoch von der Bundesregierung beschlossenen Lockerungen vor diesem Hintergrund für maßvoll?
Ich glaube, sie sind maßvoll und insgesamt sinnvoll, auch wenn sich Interessengruppen bereits mehr oder weniger lautstark mit Detailkritik melden. Das Problem ist natürlich, dass wiederum niemand die Effekte der Maßnahmen genau vorhersagen kann. Auch Mathematiker können das nur bis zu einem gewissen Maße. Man wird sich daher Steuerungsinstrumente vorbehalten müssen und schrittweise vorgehen. So kann man die Auswirkungen der jeweiligen Schritte sehen, bevor man die nächste Veränderung vornimmt. Dabei muss man nicht unbedingt die von der Politik angedachten 14 Tage einhalten. Es ist nicht sinnvoll, hier einen fixen Zeitraum festzulegen.
Viele Menschen leiden unter der Kontaktsperre. Können Sie einschätzen, wie lange diese noch andauern wird?
Das kann derzeit niemand sicher. Das wäre reine Spekulation und ich glaube nicht, dass damit jemandem geholfen wäre. Wie auch immer man die Maßnahmen verändert: Die Veränderungen müssen begleitet werden von einer guten Aufklärung der Bevölkerung. So können die Menschen ihnen auch folgen – erst mit dem Verständnis, dann mit dem Verhalten. Aber das ist schwierig. Es gibt ein Bedürfnis, die Dinge zu hinterfragen. Auch die Forderung vieler Interessengruppen nach einer langfristigen Perspektive ist nicht realistisch. Ich kann sie zwar nachvollziehen. Aber es wäre jetzt nicht verantwortungsvoll, so zu tun, als wisse man genau, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergeht.
Sie sind nicht nur Virologe, sondern auch Mediziner: Werden die Gesundheitsrisiken für Menschen, die seit Wochen alleine in ihrer Wohnung sitzen, in der öffentlichen Debatte ausreichend berücksichtigt?
Das ist schwierig zu sagen und von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Ich habe mit vielen gesprochen, die unter dieser Isolation nicht leiden. Ich selber leide auch nicht darunter. Ich gehe täglich ein bis zwei Stunden spazieren oder fahre Rad. Ich habe einen geregelten Tagesablauf. Ich mache das, was ich sowieso viel mache: Ich sitze an meinem Schreibtisch – und das auch noch gerne. Das geht vielen Kollegen auch so. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass sich das Leben für viele extrem verändert hat. Es führt zu psychischem Stress, wenn man Dinge nicht mehr tun kann, die man gerne tun würde. Das kann auch zum Beispiel psychosomatische Leiden hervorrufen.
Wenn Sie dann rausgehen: Tragen Sie eine Schutzmaske, wie von der Bundesregierung empfohlen?
Ich habe die Schutzmaske immer im Auto oder direkt bei mir. Wenn meine Frau und ich einmal die Woche einkaufen gehen, ziehen wir sie im Geschäft an. Wir tragen sie nur in geschlossenen Räumen, in der Natur bei Spaziergängen nicht. Ich glaube auch nicht, dass das erforderlich ist.
Professor Thomas Mertens
Eine andere Beobachtung der vergangenen Wochen ist, dass die Mortalitätsrate weiter nicht oder kaum gestiegen ist – obwohl auch mehr ältere Menschen von einer Sars-CoV-2-Infektion betroffen sind. Woran kann das liegen?
Wir haben relativ viel getestet. Der niedrige Quotient ergibt sich aus der Zahl der erkannten Infizierten und der Zahl derer, die mit einer schweren Erkrankung im Krankenhaus verstorben sind. Dieser Prozentsatz hängt extrem davon ab, wie viel getestet wurde. Je mehr Infizierte man gefunden hat, desto kleiner ist der Prozentsatz der Verstorbenen. Auch hat sich unser Gesundheitssystem bisher als sehr stabil erwiesen. Ich kenne die Verhältnisse in Italien und in England ganz gut. Die Voraussetzungen hierzulande sind günstiger. Wir haben mehr Krankenhausbetten, mehr Intensivpflegebetten und deutlich mehr Beatmungsplätze.
Eine Studie aus dem vom Coronavirus stark betroffenen Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen hat vor einigen Tagen leise Hoffnungen geweckt. Demnach ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, geringer als bislang angenommen. Wie haben Sie die Ergebnisse der Studie aufgenommen?
Das Hauptproblem für mich ist, dass die Studie bisher nicht ordentlich wissenschaftlich publiziert worden ist. Es handelt sich um eine Vorabmitteilung in der Presse. Das war auch Teil der Kritik an der Studie. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese auch berechtigt. Man erwartet, dass eine Studie mit allen methodischen Details zu einer Publikation in einem Journal eingereicht wird. So haben auch andere Fachleute die Möglichkeit, das im Detail nachzuvollziehen. Aber bei der HeinsbergStudie kennt man viele wesentliche Details nicht. Die Frage nach der Sensitivität und Spezifität des verwendeten Tests ist für mich noch offen. Das heißt: Es könnte sein, dass mehr virologisch positive Ergebnisse gefunden worden sind, als es tatsächliche Sars-CoV-2-Infektionen gab. Auch die Auswahl der Getesteten ist nicht ganz klar. Wenn 1000 Personen aus weniger Haushalten getestet wurden, dann hat ein Haushalt vielfach mehrere Infizierte. Damit stellt sich die Frage, ob diese ausgewählte Gruppe repräsentativ war.
Eine andere Studie in München möchte derzeit ebenfalls die Dunkelziffer der Corona-Infizierten beleuchten. Was sind die Unterschiede zu Heinsberg?
Über ein Jahr lang sollen 4500 Menschen aus 3000 Haushalten regelmäßig auf Sars-CoV-2-Antikörper getestet werden. Aber auch hier muss die sogenannte Kohorte repräsentativ sein. Da muss man sich vorher Gedanken machen, wie man diese zusammenstellt – zumal es sich nur um 4500 Personen handelt. Es muss sichergestellt sein, dass die Kohorte der Durchschnittsbevölkerung entspricht. Eine falsche Zusammenstellung, beispielsweise durch mehr Menschen mit höherem oder geringerem Risiko, kann das Ergebnis verzerren. Epidemiologen und Statistiker müssen überlegen, wie sich das Kollektiv zusammensetzt und in welchen Abständen man testet. Dann können die Ergebnisse dieser Studie sehr interessant sein.
Von welchen aktuellen Forschungsvorhaben versprechen Sie sich wichtige Erkenntnisse?
Die Studien, die uns Auskunft über positive Effekte bestimmter Medikamente geben, müssen möglichst rasch zum Abschluss gebracht werden. Die Weltgesundheitsorganisation hat eine Liste von Medikamenten zusammengestellt, bei denen man vermutet, dass sie wirksam bei der Behandlung mittelschwer und schwer Erkrankter sein könnten. Das gilt sowohl für das bekannte Remdesivir, aber auch für Hydroxychloroquin und andere, teils bereits für andere Erkrankungen zugelassene Medikamente. Auch weniger bekannte Biologika, also Arzneistoffe, die mittels biotechnologischer Verfahren hergestellt werden, sollten in diese Behandlungsversuche einbezogen werden. In den nächsten zwei Monaten können wir da Ergebnisse erwarten. Das sind die wichtigsten Studien, weil wir die Zeit bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes durch möglichst gute Therapien überbrücken müssen.
Wann ist denn mit einem Impfstoff zu rechnen?
Das ist nach wie vor offen. Der besonders interessante RNA-Impfstoff hat den Vorteil, dass man sehr schnell sehr viel davon produzieren könnte. Er hat aber den klaren Nachteil, dass es bislang keinen beim Menschen zugelassenen Impfstoff auf Basis dieser Technologie gibt.
Hier muss besonderes darauf geachtet werden, dass er erstens wirksam ist und zweitens auch unbedenklich, bevor man Millionen von Menschen impft. Das muss in klinischen Studien überprüft werden. Und darin liegt das Problem. Im Labor kann man die Forschung bis zu einem gewissen Grad beschleunigen, ebenso bei administrativen Zulassungsprozessen. Bei einer klinischen Studie, die man an Probanden durchführen muss, aber geht das nicht. Deshalb sehe ich nicht, dass es in diesem Jahr einen allgemein verfügbaren Impfstoff geben wird.
Wenn es dieses Jahr schon keine Impfung geben wird: Wie sieht es mit dem Schnelltest aus, der für Mitte April in Aussicht gestellt wurde?
Die bisherigen Antikörper-Schnelltests haben, soweit ordentlich publiziert, ungefähr eine Sensitivität und Spezifität von 90 Prozent. Das bedeutet: Von zehn Testergebnissen ist eines falsch. Das mag zunächst wenig klingen. Aber solch ein Test ist für eine Diagnostik eigentlich ungeeignet. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, wir hätten einen Antikörpertest auf HIV gehabt, bei dem einer von zehn Bestimmungen falsch gewesen wäre. Ein Test in der Diagnostik sollte eine Sensitivität und Spezifität von deutlich über 99 Prozent haben. Meiner Erkenntnis nach gibt es einen solchen Test bisher nicht auf dem Markt. Es gibt aber einen neu entwickelten Antikörpernachweistest aus einem New Yorker Labor, der zumindest sehr spezifisch und mittlerweile FDA-zugelassen ist. Und wenn wir einen solchen Test haben, kann man den technisch auch als „Schnelltest“herstellen. „Schnell“meint dabei nur, dass er relativ einfach und ohne großen technischen Aufwand durchgeführt werden kann.
„Ich sehe nicht, dass es in diesem Jahr einen allgemein verfügbaren Impfstoff geben wird.“