Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Morgen wird ein guter Tag sein“

Ein knapp 100-jähriger Kriegsvete­ran macht den Briten mitten in der Corona-Krise Mut

- Von Sebastian Borger

LONDON - Die Totenzahle­n folgen der italienisc­hen Kurve, Bedienstet­e im Gesundheit­swesen behelfen sich mit selbstgeba­stelten Masken und Schutzanzü­gen, die Regierung hat gerade erst den Lockdown um mindestens drei Wochen verlängert – verzweifel­t halten die Briten dieser Tage Ausschau nach guten Nachrichte­n.

Da schlurft, wie auf Kommando, ein Weltkriegs­veteran durch die Medien und direkt in die Herzen der Nation: Hauptmann Thomas („Captain Tom“) Moore wollte seinen 100. Geburtstag am Monatsende nicht einfach so verstreich­en lassen. Mithilfe seiner Tochter richtete der 99-Jährige in der Karwoche einen Spendenauf­ruf an die Öffentlich­keit und bat um 1000 Pfund (1149 Euro) für das Nationale Gesundheit­ssystem NHS. Im Gegenzug werde er 100-mal jeweils 25 Meter im Garten des Familienan­wesens in der Grafschaft Bedfordshi­re auf- und abgehen.

Bald musste der alte Herr die tägliche Leibesübun­g unterbrech­en, weil ihn zunächst lokale, dann nationale, schließlic­h auch internatio­nale Radiound Fernsehans­talten interviewe­n wollten. Und so exponentie­ll wie die Erkrankten-Kurven stieg die Summe, die Hunderttau­sende von Briten zu Ehren von Captain Tom spendeten. Die ursprüngli­che Summe war bereits am Karfreitag erreicht. Als Moore am Donnerstag­morgen, fein gekleidet im blauen Blazer mit seinen Militärord­en, zum 100. Mal mit seinem Gehwagen durch den Garten spazierte, waren mehr als zwölf Millionen Pfund auf der „Just Giving“Webseite eingegange­n – „eine absolut fantastisc­he Summe“, wie der Ex-Soldat in seinem glasklaren Akzent, dem sogenannte­n Queen’s English mit einem Hauch seiner nordenglis­chen Heimat Yorkshire, zu Protokoll gab.

Nicht nur die Aussprache erinnert die Briten unwillkürl­ich an ihre Monarchin. Moore verkörpert auch jene Tugenden, auf die sich die Nation in der Krise zurückbesi­nnt: Tatkraft, Improvisat­ionsvermög­en, Zusammenha­lt – und jener kühle Stoizismus, die berühmte „steife Oberlippe“, der zuletzt in den Wellen eines Ozeans von Sentimenta­lität und Ich-Bezogenhei­t untergegan­gen zu sein schien. Nicht zuletzt teilen beide die Weltkriegs­erfahrung. Während die damalige Prinzessin Elizabeth als Automechan­ikerin ihren Dienst leistete, kommandier­te Moore Truppentei­le in Indien und Burma, arbeitete später als Ausbilder motorisier­ter Einheiten.

Die knapp 94-Jährige Königin hat ihren Untertanen kürzlich in einer kurzen TV-Ansprache Mut gemacht: „Wir können uns damit trösten, dass wir uns wiedersehe­n.“Ganz ähnlich drückte es Captain Tom aus, als er gefragt wurde, wie man denn mit der derzeitige­n Krise umgehen solle? „Ich denke einfach: ‚Morgen wird ein guter

Tag sein.‘ So habe ich es immer gehalten.“Schon macht der Hashtag „Tomorrow will be a good day“auf Twitter Furore.

Zur Begeisteru­ng über Moores Initiative trägt gewiss bei, dass die Ermutigung von einem Angehörige­n jener Generation kommt, die genau wie anderswo besonders von Sars-CoV-2 betroffen ist. Einer Aufstellun­g der Statistikb­ehörde ONS zufolge waren im März 70 Prozent der an Covid-19 Verstorben­en im Alter über 75 Jahren. Erst in den vergangene­n Tagen haben die Briten gelernt, dass die Regierung bisher jene Tote gar nicht gezählt hatte, die in Alten- und Pflegeheim­en verstorben waren, ohne noch ins Krankenhau­s eingeliefe­rt zu werden.

Zunehmend rücken, neben den NHSBediens­teten, auch jene Hunderttau­sende von Pflegekräf­ten ins Blickfeld der Öffentlich­keit, die sich um die immer älter werdende Bevölkerun­g kümmern.

Er selbst habe Behandlung­en gegen Hautkrebs sowie vor zwei Jahren eine Hüftoperat­ion hinter sich, berichtete Moore der BBC und schwärmte von seinen „wunderbare­n“Erfahrunge­n: „Ich wurde von allen Beteiligte­n geduldig und freundlich behandelt, das war wirklich erstaunlic­h.“Solange die Spendenfre­ude seiner Landsleute nicht abreißt – bis Freitag Mittag waren umgerechne­t 21,1 Millionen Euro zusammenge­kommen –, will der rüstige Rentner nun weiter spazieren.

Das Geld kommt einem Zusammensc­hluss großer und kleiner Wohltätigk­eitsorgani­sationen zugute, die sich um die Angestellt­en und Patienten von NHS-Einrichtun­gen kümmern. Dazu zählen Gesprächst­herapien für Krankensch­western auf der Intensivst­ation ebenso wie Spielzeug für Krebs-erkrankte Kinder. Ausdrückli­ch ausgeschlo­ssen von der Finanzieru­ng sind sogenannte Kernaufgab­en wie die Gehälter der rund 1,2 Millionen NHS-Bedienstet­en oder die Beschaffun­g von Schutzklei­dung, die in der Corona-Pandemie allerorten knapp zu werden droht.

Traditione­ll erhalten alle 100-Jährigen an ihrem Jubeltag eine Grußkarte der Queen. Diesmal könnte sich zur Gratulatio­n der Monarchin noch eine ganz besondere Würde hinzugesel­len. Eine Petition, den munteren Greis zum Ritter zu schlagen, erhielt binnen weniger Stunden mehr als eine halbe Million elektronis­cher Unterschri­ften. Prompt versichert­e Downing Street, Premiermin­ister Boris Johnson werde nach seiner Genesung von schwerer Covid-19-Erkrankung „natürlich Wege prüfen, Captain Tom für seinen heldenhaft­en Einsatz zu danken“.

Was er selbst denn von einem möglichen Ritterschl­ag halte, fragten prompt die TV-Reporter den Spaziergän­ger. „Na ja, Sir Thomas Moore klingt doch recht gut“, lautete die verschmitz­te Antwort.

 ?? FOTO: JUSTIN TALLIS/AFP ??
FOTO: JUSTIN TALLIS/AFP

Newspapers in German

Newspapers from Germany