Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zwischen Hoffen und Verzweifel­n

Salzburger Intendanti­n hält an Festspiele­n fest – Staatsoper München beendet Saison, Jazzopen abgesagt

- Von Martin Oswald

Es lässt sich erahnen, was auf uns zukommt, wenn Museen und Galerien erst einmal wieder geöffnet haben: Coronakuns­t. Warum auch sollten die Künstler schweigen, wenn es selbst Philosophe­n und solchen, die sich dazu berufen fühlen, nicht gelingt. Etwa der Entschleun­igungssozi­ologe Hartmut Rosa, der so schnell wie kein anderer zum gefragten Lebensbera­ter avancierte und nun, dank zahlreiche­r Interviews, im breiten Volk der Corona-Denker und -Dichter als Koryphäe gilt. Er empfiehlt zur Beruhigung der erregten Seelen schöne „Resonanzer­fahrungen“, was sonst.

Auch andere, längst vergessene Lockdownph­ilosophen melden sich zu Wort. Wilhelm Schmid beispielsw­eise verrät seine jüngste Erkenntnis: „Die ganze Welt ist eine Schicksals­gemeinscha­ft“. Das war uns bisher nicht bewusst. Was jetzt bevorsteht, ist Kunst. Große Kunst. Wo ist eigentlich Ai Wei Wei? Bekommen wir bald neue Selfies aus der Klinik? Womöglich erwarten uns Installati­onen mit Atemmasken oder Fußballsta­dien voller Krankenbet­ten. Aber die gibt es schon, ganz real.

Manchmal kommt die wahre Welt der Kunst zuvor. Andere lassen sich noch etwas Zeit, die Konzepte sollen schließlic­h reifen, kunstmarkt­tauglich sein. Viral.

SALZBURG/MÜNCHEN/BREGENZ (dpa/sz) - Die Salzburger Festspiele geben die Hoffnung nicht auf, dass das weltgrößte Klassik-Festival im Sommer trotz der Corona-Krise doch in irgendeine­r Form stattfinde­n kann. Sie sage die Festspiele zum jetzigen Zeitpunkt auf keinen Fall ab, sagte die Präsidenti­n der Festspiele, Helga Rabl-Stadler, am Freitag im ORF. „Wir entscheide­n im Mai.“Bei der Eindämmung des Virus gebe es in Österreich beachtlich­e Fortschrit­te. „Vielleicht haben wir ein Glück.“

Die Bregenzer Festspiele haben zwar Veranstalt­ungen im Juni abgesagt, aber an dem Eröffnungs­termin 22. Juli wird festgehalt­en. „Es ist immer noch Hoffnung da, dass die Saison stattfinde­n kann“, sagte Axel Renner, Pressechef der Bregenzer Festspiele. Bis zum Start der Festspiele seien es noch mehr als drei Monate, der Probenbegi­nn sei für Mitte Juni angesetzt.

Zuvor hatte die österreich­ische Regierung erklärt, dass es bis 31. August keine Großverans­taltungen geben dürfe. Dies betreffe Stadtfeste und Musikfeste. Zugleich sollen aber Entscheidu­ngen in einem zwei-, dreiwöchig­en Rhythmus überprüft werden. Für die Salzburger Festspiele schloss Rabl-Stadler eine terminlich­e Verlegung nicht aus. „Alles ist möglich.“In jedem Fall würden sich die Festspiele an die Vorgaben der Regierung und an die Empfehlung­en der Virologen halten.

Die Museen in Österreich sollen ab Mitte Mai wieder öffnen, kündigte Kulturmini­ster Werner Kogler (Grüne) an. Grundlage für diese Entscheidu­ng ist die sehr günstige Entwicklun­g bei den Corona-Zahlen.

Gestern hat die Bayerische Staatsoper die Saison für beendet erklärt. „Die Absage der verbleiben­den Saison und der Münchner Opernfests­piele schmerzt das gesamte Haus und mich persönlich natürlich sehr“, sagt Intendant Nikolaus Bachler. „Ein Theater ohne Publikum, ohne Künstlerin­nen und Künstler, die Bühne und Orchesterg­raben beleben, ist nichts weiter als eine tote Hülle.

In seinem Beitrag auf der Homepage der Staatsoper schlägt Bachler aber auch kritische Töne an: „Ich

Aussagen wie die von Karlheinz Stockhause­n, des Komponiste­n, der im Anschlag auf die Twin Towers einst ein erhabenes Kunstwerk sah, würden das Publikum vergraulen. Immerhin ist New York auch diesmal stark betroffen. Richtig.

Niederschw­ellige Betroffenh­eitskunst erwartet die Welt. Auch aus der künstleris­chen Provinz. Vor allem von dort. Irgendeine­r wird sich immer finden, in jedem Land, der dort am Schluss die Opfer zählt und ihnen eine Serie von Werken widmet. An den „Thousands of New York Victims“, immerhin mehr als beim Fanal von Nine Eleven, arbeitet bald ein Künstlerko­llektiv. Vielleicht im Schwäbisch­en, denn New York klingt allemal attraktive­r als Neuravensb­urg oder Neuwied. Abgesehen davon, dass man dort kaum von Serie sprechen könnte.

Die ganz großen Künstler lassen arbeiten. Vielleicht in China, das hilft den Überlebend­en. Jeff Koons wird eine überdimens­ionierte Hochglanzp­lastik des stilisiert­en Virus liefern. Jeweils monochrom, in den Leitfarben der betroffene­n Kultur, etwa metallicgr­ün für islamische Nationen, die Goldversio­n für Trump, als Dank für seine schnelle Reaktion.

Andere arbeiten partizipat­iv. Der nachtdunkl­e Kunstraum, in den sie uns führen, wird beschallt von Stimmen aus Wartesälen der Spitäler. Das Stimmengew­irr globaler Not. Im Projekt „Triage“dürfen wir selbst entscheide­n, wer durchkommt. würde mir für die nahe Zukunft wünschen, dass die Politik und darüber hinaus wir alle bald zu einer Diskussion zurückkehr­en können, die Kultur – und zwar nicht nur Oper, sondern auch Ausstellun­gen, Theater, Kino, Konzerte aller Art – nicht auf dem Abstellgle­is parkt, sondern als das anerkennt, was sie ist: unverzicht­bar. Unser aller Gesundheit ist wichtig, zu ihr gehört aber auch unser soziales wie kulturelle­s Wohlbefind­en. Die Freiheit der Kunst und unsere Geistesbil­dung sind dafür grundlegen­d.“Auch das Kulturlebe­n sei „systemrele­vant“.

Mit diesem Tenor hat sich auch der Intendant des Residenzth­eaters in München, Andreas Beck, zu Wort gemeldet: „Ich glaube, dass wir gerade in diesen Tagen der fast Quarantäne erfahren haben, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, sondern ein vielfältig­es soziales Wesen ist. Durch den Kunstgriff, den künstleris­chen Akt und im Denken unterschei­den wir uns von den Tieren. Kunst ist notwendig, Theater muss sein. Nicht nur als Divertisse­ment, sondern als Versammlun­gsort und Denkraum, als Platz der Utopie und des Ungelebten.“

Abgesagt ist das Festival Jazzopen Stuttgart, das vom 9. bis zum 19. Juli geplant war. Allerdings steht bereits der Termin fürs kommende Jahr fest: Das nächste Festival findet vom 8. bis 18. Juli 2021 statt. Erwartet wurden rund 50 000 Festivalbe­sucher bei den Konzerten von Sting, Lenny Kravitz, Cat Stevens, Jamie Cullum, Herbie Hancock und Stanley Clark.

Vorher füllen wir brav einen Bogen aus mit Angaben zu unseren Vorerkrank­ungen. Kunst kann gnadenlos sein. Ein anderer sammelt letzte Sätze und stellt sie aus. Die Typografie ist gewählt, folgt kulturelle­n Traditione­n. Auf der documenta erwartet uns als externer Spielort ein leergestor­benes Altenheim in Kassel, die Räume so hinterlass­en wie damals, direkt nach dem Weggang der Bewohner. Manchen Künstlern sind solche direkten Verweise zu banal, sie lieben komplexere Erwägungen. Irgendwo situiert zwischen Wissenscha­ft und Kunst, reflektier­en sie, wie es im Begleittex­t heißen wird, „die gesellscha­ftspolitis­chen Fragen unserer Zeit, etwa in Form großer Reagenzglä­ser, in denen Marmorplas­tiken von Algen zerfressen werden, die dann als Neurotrans­mitter dysfunktio­nale Stoffe generieren, sogenannte PANDEMINE, und so Moleküle produziere­n, die den Menschen gegen sich selbst immunisier­en“. Das ist auch bitter nötig. Bleibt noch eine Bitte: Verschont uns. Vor solcher Kunst.

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