Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Als es im Fuhrwerk zur Fahrstunde ging
Mobilität hieß vor 100 Jahren Fahrrad, Gespann, Zug – Wie das Auto das Dorfleben änderte
DÜRMENTINGEN - Eine Fahrstunde konnte in den 1920er-Jahren zu einem tagesfüllenden Projekt werden. Der Dürmentinger Willi Schlegel legte 1926 den Weg zur Fahrschule mit dem Fahrrad und per Anhalter im Fuhrwerk zurück. Wie Schlegel die Motorisierung auf dem Dorf erlebte und wie das Auto das Leben der Menschen auf dem Land veränderte, hat Heimatforscher Klaus Jonski im Rahmen seiner Zeitzeugenarbeit festgehalten.
Vor 90 Jahren dominierten auf dem Dorf die Gespanne. Und so musste, wer den neuen Beruf des Kfz-Mechanikers lernen wollte, Oberschwaben verlassen. Willi Schlegel aus Dürmentingen machte sich 1928 auf nach Düsseldorf zur Kfz-Schule. Dem Mittelbiberacher Forscher Klaus Jonski gelang es Jahrzehnte später, die Erlebnisse Schlegels zu Papier zu bringen und so eine Lebensgeschichte und die Geschichte der Motorisierung auf dem Dorf festzuhalten (siehe „BC – Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach“).
Wie entschleunigt das Leben, wie eng der Radius in der Zeit ohne Auto waren, zeigt Schlegels Jugendzeit. 1926 wollte er den Führerschein machen, nachdem er mit dem Auto seines Vaters – als Mühlen-, Säge-, Elektrizitätswerksbesitzer und Landwirt einer der wenigen Autobesitzer – hatte fahren dürfen. Um pünktlich um 7 Uhr zur Fahrstunde in Ostrach zu sein, musste er früh morgens losradeln. In Ostrach stieg er mit mehreren Schülern ins Fahrschulauto, einen offenen NSU-Wagen. Jeder durfte üben und wurde danach einfach am Wegesrand abgesetzt, um neue Schüler an Bord nehmen zu können. Von Tigerfeld (Pfronstetten) aus machte sich Schlegel zu Fuß, per Anhalter in Fuhrwerken und mit dem Rad wieder auf den Heimweg. Mitternacht sei es geworden, berichtete er später Klaus Jonski.
Während Willi Schlegel die neue Art der Fortbewegung begeisterte, stieß sie bei vielen Landwirten nicht gerade auf helle Freude. Bei den Bauern seien die Autofahrer nicht besonders beliebt gewesen, so die Erzählungen Schlegels. Oft hätten sich die Landwirte, die mit ihren Fuhrwerken in der Straßenmitte fuhren, stur gestellt und das Hupen extra lang ignoriert.
Zum Los des Autofahrers gehörten auch Pannen auf den ungeteerten Straßen. Zwei Reifenwechsel waren laut Schlegel auf der Strecke Riedlingen-Ulm normal. Wer aber dann aber abends im Wirtshaus den Autoschlüssel auf den Tisch legen konnte, erntete ungläubige Blicke. Die Zuhörer liefen nach draußen, um sich zu vergewissern, dass da tatsächlich ein Auto stand.
Dass die kleine Gruppe der Automobilisten bestaunt wurde, sollte bis in die 1950er-Jahre so bleiben. „Die Dorfbuben liefen am Sonntag zur einzig geteerten Straße, der B30, wo alle halbe Stunde ein Auto kam“, erinnert sich Jonski, der 1951 nach Winterstettenstadt zog. Amerikanische Modelle, gefahren von gut betuchten Schweizern, waren eine besondere
Attraktion.
Nur Wohlhabende und Leute mit besonderen Berufen wie Bürgermeister, Arzt, bestimmte Händler und Handelsvertreter besaßen ein Auto. Die Menschen auf dem Dorf kamen zurecht, ohne ständig zum Einkaufen in die Stadt zu gehen. Sie versorgten sich selbst und erstanden den Rest im Dorfladen. Der wiederum erhielt einen Teil der Waren mit dem Lastwagen, etwa Fisch im Fass oder Zucker. Alteisensammler und Viehhändler kamen ebenfalls mit dem Wagen in den Ort. Winterstettenstadterinnen, die Eier und Geflügel auf dem Biberacher Wochenmarkt verkaufen wollten, nahmen hingegen den Zug, so Jonski.
Ende der 1950er-Jahre begannen die Landwirte, Traktoren anzuschaffen. „Der Traum der Landbevölkerung war nicht das Auto, sondern der Traktor“, sagt Jonski. Die von harter körperlicher Arbeit geprägte Landwirtschaft veränderte sich. „Landmaschinen waren ab 1958 im Kommen.“Das schuf auch Abhilfe bei einem anderen Problem. Knechte waren in der Zeit, in der in der Industrie in Biberach Arbeitsplätze entstanden, nicht mehr zu bekommen, weiß Jonski.
Der Traktor veränderte zudem die Freizeit. „Sonntags fuhr man mit dem Traktor zur Verwandtschaft.“Im Lauf der Jahre kauften die jungen
Männer Motorräder. „Sie fachsimpelten am Burgberg über die Leistungsfähigkeit ihrer Maschinen. Wenn ein Rennen übertragen wurde, saßen sie alle vor dem Radio“, erinnert sich Jonski.
Ende der 1950er-Jahre erwarben mehr Dorfbewohner ein Auto. Wer als junger Mann mithalten wollte, musste motorisiert sein. Die Erfahrung machte auch Klaus Jonski, als er eingestaubt vom Fußmarsch im Tanzlokal ankam. „Die anderen waren mit Motorrädern oder den Autos der Väter da und beeindruckten damit. Da habe ich die Segel gestrichen und bin wieder heim gelaufen.“
Das Auto veränderte den Aktionsradius. „Am Wochenende fuhren junge Burschen nachts noch nach Weingarten ins angesagte Café Himmel. Der Wagen war überfüllt, sogar im Kofferraum saß einer“, erzählt Jonski. Das Auto sorgte für neue Freiheiten. „Die 60er-Jahre brachten dann auf dem Dorf den Motorisierungsschub“, berichtet Jonski. Das Auto gehörte fortan zum Alltag.
Das Leben von Willi Schlegel schildert Klaus Jonski im Rahmen seiner Zeitzeugenarbeit in: „BC – Heimatkundlichen Blätter für den Kreis Biberach“, Jahrgang 21, zu finden unter www.gfh-biberach.de/publication/