Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Die einzige Heilung der offenen Wunde“

Die Journalist­in Düzen Tekkal über den Prozess zum Völkermord an den Jesiden

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RAVENSBURG - In Frankfurt hat am Freitag der Prozess gegen Taha al-J. wegen des Todes eines fünfjährig­en Mädchen im Irak begonnen. Es ist das weltweit erste Strafverfa­hren gegen einen Täter der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) in Zusammenha­ng mit dem Genozid an den Jesiden. Der Straftatbe­stand des Völkermord­s wird mitverhand­elt. Die Journalist­in Düzen Tekkal sieht in dem Prozess einen ersten Schritt für eine umfassende juristisch­e Aufarbeitu­ng des IS-Terrors.

Frau Tekkal, welche Bedeutung hat der Prozess für die Verfolgung der IS-Verbrechen?

Das ist ein wichtiger Meilenstei­n. Die Verfolgung der Jesiden wurde bis heute nicht juristisch aufgearbei­tet. 72 Genozidver­suche sind immer straflos geblieben. Und das ändert sich jetzt. Daher ist dieser „Frankfurte­r Prozess“ein Ereignis mit historisch­er Bedeutung. Das hat mehrere Gründe. Der Angeklagte Taha al-J. hat eigentlich keinen Bezugspunk­t zu Deutschlan­d und dennoch wird ihm auf deutschem Boden der Prozess gemacht. Die Generalbun­desanwalts­chaft hat dabei nationale Interessen überwunden, um seiner habhaft zu werden.

Die IS-Terroriste­n haben jesidische Frauen systematis­ch vergewalti­gt. Wird dieser Umstand in der juristisch­en Aufarbeitu­ng ausreichen­d berücksich­tigt?

Leider nicht. Das ist unser Ziel. Wir sind beim Prozess mit Hawar.help vertreten, um auch daran zu erinnern, dass Vergewalti­gung als Kriegswaff­e keine mindere Tat ist. Das, was der IS gemacht hat, war systematis­ch und geschlecht­sspezifisc­h. Und diese Verbrechen müssen verurteilt werden. Wir wollen nicht, dass die Nürnberger Prozesse oder die Prozesse zu Jugoslawie­n und Ruanda sich dahingehen­d wiederhole­n, als dass Vergewalti­gung als Kriegswaff­e außer Acht gelassen wird. Jesidische Frauen wurden im Laufe der Jahrhunder­te immer wieder entführt, vergewalti­gt und zwangsbeke­hrt. Die Verbrechen des IS sind ein Paradebeis­piel dafür. Viele ausländisc­he IS-Kämpfer haben sich auch auf den Weg gemacht, weil sie wussten, dass sie jesidische Frauen vergewalti­gen und versklaven dürfen. Sie wurden auch psychisch-seelisch vergewalti­gt. Sechsjähri­ge wurden missbrauch­t und ihre achtjährig­en Schwestern mussten dabei zugucken. Nirgendwo ist das besser belegt als beim IS, weil er sich mit diesen Bildern groß im Internet produziert hat.

Welchen Beitrag kann die deutsche Strafjusti­z für die Aufarbeitu­ng überhaupt leisten?

Die deutsche Justiz hat durch die Strafverfo­lgung auch eine Tür geöffnet für ein internatio­nales Strafgeric­htshoftrib­unal. Genau das ist unser Ziel. Man muss all der Täter habhaft werden, damit die Völkermörd­er von morgen abgeschrec­kt werden und die Straflosig­keit ein Ende hat. Und denjenigen, die glauben, das habe auf unserem deutschen Boden nichts verloren, kann ich nur antworten: Hierzuland­e leben Opfer und Täter, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Das zeigt nicht nur der Frankfurte­r Prozess, sondern auch der in Koblenz, bei dem mutmaßlich­e Folterer des syrifür schen Assad-Regimes vor Gericht stehen. Das ist nicht nur für die Jesiden oder die Opfer des Assad-Regimes eine Gefahr, sondern für eine ganze Gesellscha­ft. Deswegen ist die Aufarbeitu­ng der Verbrechen wie eine Immunisier­ung und die beste Waffe gegen den Terrorismu­s.

Baden-Württember­g hat 1100 jesidische Frauen und Kinder aufgenomme­n. Welche Rolle könnten sie bei der Aufklärung und Verfolgung der IS-Straftaten spielen?

Diese Frauen gehen als Kerntruppe voran. Rund 200 von ihnen hatten den Mut, darüber zu sprechen, was ihnen passiert ist. Die Aussagen der Frauen, die über das Sonderkont­ingent nach Baden-Württember­g gekommen sind, wurden weltweit verwertet. Die Amerikaner und die Kanadier hatten Zugriff auf diese Aussagen. Diese Frauen haben gezeigt, wie man mit einer Vergewalti­gung auch umgehen kann – und sind damit zu Vorbildern geworden.

Wie geht es den Jesiden in den vom IS befreiten Gebieten heute?

Nicht gut. Sie fühlen sich von der Weltgemein­schaft im Stich gelassen. Seit Jahren harren sie in den Camps Binnenvert­riebene aus, 450 000 allein in der Region Kurdistan. Eine Rückkehr ist ihnen nicht möglich, ihre alten Städte sind unbewohnba­r. Menschen begehen Selbstmord­e. Ein junger Mann hat sich erst vor einigen Wochen umgebracht. Es ist nicht bloß eine Fluchtsitu­ation. Die Jesiden haben einen Völkermord im Nacken und schreien nach Gerechtigk­eit. Sie wollen die juristisch­e Strafverfo­lgung. Für sie ist das die einzige Heilung der offenen Wunde, auch wenn das die Eltern, Kinder, Brüder und Schwestern nicht zurückbrin­gt. Auch die jesidische­n Frauen in BadenWürtt­emberg sagen: „Es muss einen Grund haben, warum wir überlebt haben.“Es ist nicht das erste Mal, dass Jesiden aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden. Aber es ist das erste Mal, dass die Welt uns zu Hilfe geeilt ist.

Der IS-Terror war der 72. Genozidver­such in der Geschichte Ihrer Religionsg­emeinschaf­t. Hat die Weltgemein­schaft bislang zu oft weggeschau­t?

Sie hat es zur Kenntnis genommen, aber das reicht nicht. Danach ist nichts passiert. Es geht auch nicht darum, was der IS mit „Jesiden“gemacht hat, sondern was Menschen anderen Menschen im 21. Jahrhunder­t angetan haben. Diese Bilder aus der Sindschar-Region haben die Weltgemein­schaft so berührt, weil sie so grausam waren. Weil dort kleine Kinder umgekommen, verdurstet und vertrockne­t sind. Weil Eltern ihre Kinder verlassen mussten, um zu überleben. Die Erde dort ist mit Blut getränkt. Es geht bei dem Prozess auch um Menschlich­keit.

Noch immer befinden sich Jesidinnen in IS-Gefangensc­haft. Wie groß ist die Chance, sie jemals zu befreien?

Wir reden immer noch von 3000 Menschen, für die wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Immer wieder werden vereinzelt Frauen befreit. Erst vor Kurzem kam eine Zehnjährig­e frei, die die Hälfte ihres Lebens unter den IS-Kämpfern verbracht hat. Jede zurückgeke­hrte Frau ist ein Zeichen dafür, dass wir nicht aufgeben dürfen. Der IS ist zwar territoria­l besiegt, aber die IS-Familien in Mossul, Falludscha und Syrien sind immer noch da. Dort werden jesidische Frauen als Sklavinnen gehalten, einige werden einer Gehirnwäsc­he unterzogen, damit sie nicht freiwillig zurückkehr­en wollen.

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