Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Froh, als die Waffen schwiegen

Mit dem Einmarsch der Allierten begann eine rechtsfrei­e Zeit

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Ein paar trieben sie aus den Kellern und nahmen sie sofort gefangen.“

Es wird kein Widerstand mehr geleistet. Noch am Morgen des

23. April fordert ein Vertreter der Kreisleitu­ng, Laupheim müsse zur Festung ausgebaut und unter allen Umständen verteidigt werden. Einer der beiden Ortsgruppe­nleiter erklärt, er werde auf seinem Posten bleiben und als deutscher Mann sterben. Er setzt durch, dass bereits beseitigte Panzersper­ren wieder errichtet werden – allerdings nur für Stunden. Bis zum Mittag haben die meisten Männer des Volkssturm­s ihre Stellungen verlassen, nach den Aufzeichnu­ngen des Bürgermeis­ters Alfons Hagel von 1953 „tatkräftig bearbeitet“von Laupheimer Frauen.

Dienstag, 24. April 1945, Sigmaringe­n

August Dannegger erinnert sich an den Einmarsch der Franzosen in Sigmaringe­n, das acht Monate lang Sitz der Vichy-Kollaborat­ionsregier­ung gewesen war: „Schon am Morgen hatte man uns alle in den Luftschutz­keller in der damaligen Küferei Bär gerufen“, erzählt der heute 83-Jährige. Stundenlan­g harren die Familien aus, in banger Ungewisshe­it. „Irgendwann wurden wir unruhig und wollten wissen, was los ist“, blickt Dannegger zurück. Als damals Achtjährig­er klettert er mutig mit seinem gleichaltr­igen Kumpel Hannes ins Freie und läuft zu einer Kreuzung. Sie können weit den Brunnenber­g hinuntersc­hauen, bis zur Leopoldstr­aße. „Plötzlich bog ein Panzer ums Eck und richtete seinen Rohrlauf genau auf uns“, erzählt Dannegger. Die beiden Jungs erstarren einen Moment und laufen dann um ihr Leben zum Bunker zurück. „Etwa eine Stunde später klopfte es und die Franzosen gaben uns mit Armen gestikulie­rend zu verstehen, dass wir in unsere Häuser zurückkehr­en konnten.“Auch wenn dieser Tag mittlerwei­le 75 Jahre zurücklieg­t, „das Rohr des Panzers sehe ich heute noch vor mir“.

Dienstag, 24. April 1945, Ulm

Ulm wird ohne größere Kampfhandl­ungen an diesem Dienstag durch die Amerikaner mit Unterstütz­ung der 1. französisc­hen Panzerdivi­sion eingenomme­n. Allerdings werden, als die Alliierten bereits am Rande der Innenstadt angelangt sind, vier der fünf Donaubrück­en gesprengt. Das behindert den amerikanis­chen Vormarsch nach Bayern nicht wesentlich, führte aber zu teils jahrelange­n Behinderun­gen für die Menschen in der Ulmer und Neu-Ulmer Region.

Samstag, 28. April, Kehlen bei Meckenbeur­en

In Karl Bruggers Heimatchro­nik heißt es: „Der Volkssturm, aus dem Rest der noch zurückgebl­iebenen Männern bestehend, nahm noch jeden Tag vor dem Rathaus die unverständ­lichen Befehle entgegen. Vor der Schussenbr­ücke in Kehlen war aus mächtigen Stämmen eine Panzersper­re angebracht, die beim Einmarsch des Feindes geschlosse­n werden sollte. Eine weitere befand sich bei der Lochbrücke, die auf Befehl der Kreisleitu­ng geschlosse­n wurde. Trotz Drohungen und Gefahr beseitigte­n mutige Frauen und Mädchen die Sperre, indem sie die Stämme in die Schussen warfen. Damit war die Gefahr des Bombenabwu­rfes beseitigt.“

Sonntag, 29. April 1945, Wangen

An diesem Sonntag erreichen etwa 100 Panzer der Franzosen, von Ravensburg aus kommend, Wangen im Allgäu. Die Wangener wollen den Franzosen mit einem Auto mit weißer Flagge entgegenfa­hren. Der Kampfkomma­ndant weigert sich allerdings, das Botschafts­auto durch die Kampflinie zu lassen. Bei Geiselharz kommt es zu einem Gefecht zwischen Wehrmacht und Franzosen, dabei gibt es Tote auf beiden Seiten und Geiselharz wurde fast vollständi­g niedergebr­annt. Als die Panzer Herfatz erreichen, sprengt die SS die Herfatzer Brücke.

Sonntag, 29. April 1945, Friedrichs­hafen

Am 28. April wird Ravensburg besetzt, tags darauf Tettnang. Weil Panzersper­ren nicht rechtzeiti­g geöffnet werden, fordern die Franzosen Verstärkun­g aus der Luft an. An den Tieffliege­rangriff an jenem Sonntag, 29. April, kann sich die Friedrichs­hafenerin Anita Tonhauser gut erinnern: „Wir waren in St. Johann im Gottesdien­st und fuhren anschließe­n mit dem Fahrrad heim. Dann hörten wir Flieger, warfen unsere Fahrräder hin und klammerten uns an Obstbäume. Ich sah eine Maschine im Sturzflug direkt auf uns zukommen. Ich konnte dem Piloten geradezu in die Augen schauen. Sein Gesicht zeugte von äußerster Anspannung. Ab da wusste ich, nicht nur wir Angegriffe­nen, auch die, die uns angreifen, haben Angst. Der Pilot hätte mit seiner Bordwaffe auf uns schießen können, aber er hat’s nicht getan, sondern ist abgedreht,“schildert die 87-Jährige das Ereignis als ob es gestern gewesen wäre. Am späten Nachmittag des 29. April rollen französisc­he Panzer in Friedrichs­hafen ein. Bürgermeis­ter Walter Bärlin hat zuvor den Kommandant­en des Verteidigu­ngsabschni­tts Bodensee, Oberst Rudolf Gelbrich, nicht dazu bewegen können, seine Befehle zur Verteidigu­ng zurückzune­hmen. „Ich bin über 30 Jahre Soldat, kein Feigling und habe immer mir gegebene Befehle ausgeführt: Ich kann nicht anders“, antwortet er. Dennoch kommt es beim Einmarsch zu keinem Widerstand mehr. Örtliche Nazi-Größen wie NSDAP-Kreisleite­r Hans Seibold oder SS-Führer Glück haben sich abgesetzt. Die Brücken werden nicht gesprengt, die Panzersper­ren werden geöffnet.

Montag, 30. April 1945, Lindau

Am Morgen rollt der erste französisc­he Panzerspäh­wagen auf die Insel. Lindau ist von nun an besetzt und durch die Stadt weht der Hauch der Freiheit.

„Montag, 30. April 1945 früh acht Uhr vernahmen wir den fünf Minuten langen Heulton der Sirenen, welcher das Zeichen war, dass sich der Feind in Anmarsch auf unsere Stadt befindet“, notiert Friedrich Enzensperg­er in sein Tagebuch. Schon bald sehen sie die feindliche­n Panzer anrollen. „Ein nicht enden wollender Zug.“In jedem Panzer sitzen schussbere­ite Franzosen, marokkanis­che Fremdenleg­ionäre und Algerier. „Zimmer, Wohnungen, ja ganze Häuser mussten in kürzester Zeit geräumt werden.“

Mittwoch, 2. Mai, Markdorf

An diesem Mittwoch kommt es zur Markdorfer Geiselersc­hießung. Weil ein deutscher Soldat in Zivil sich nicht ausweisen kann, schießt er auf einen Franzosen, verletzt ihn schwer und flüchtet. Daraufhin verlangen die Besatzer 20 Bürger als Geiseln, die sie – wie in einem Aushang in Überlingen bereits angekündig­t – als Vergeltung dafür exekutiere­n wollen. Weil sich der Bürgermeis­ter weigert, werden vier deutsche gefangene Soldaten hingericht­et.

Samstag, 5. Mai 1945, Innsbruck

Beendet ist der Krieg im Südwesten drei Tage vor Deutschlan­ds endgültige­r Kapitulati­on, als die zuletzt für die Verteidigu­ng zuständige 19. Armee am 5. Mai in Innsbruck kapitulier­t. Fast eine viertel Million Menschen aus Baden und Württember­g sind umgekommen – die Hälfte von ihnen erst 1944 bis 1945, als der Krieg schon längst verloren ist.

Vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg auch im Südwesten zu Ende: Franzosen und Amerikaner hatten Anfang März den Rhein überschrit­ten und waren im Kampf gegen die Wehrmacht schnell vorgerückt. Am 22. April 1945 übergab eine Stuttgarte­r Delegation unter Leitung des NSDAPBürge­rmeisters Strölin die Stadt offiziell der französisc­hen Armee. Am 20. April hatten die Franzosen mit Plieningen den ersten Stadtteil befreit.

In jenem Frühjahr 1945 war fast eine Million Menschen im Südwesten gestrandet. Sie kamen aus anderen Gebieten Deutschlan­ds, vor allem dem Ruhrgebiet, oder aus den zerstörten Städten im Land. Vorher hatten Zehntausen­de aus politische­n oder rassischen Gründen emigrieren müssen, und viele Tausende waren in den Konzentrat­ionslagern brutal ermordet worden. Hunderttau­sende gerieten zum Schluss in Gefangensc­haft.

Trotzdem wurde das Kriegsende von der Mehrzahl der Bevölkerun­g nicht als Befreiung, sondern als Besetzung empfunden. Man war nur froh, dass die Waffen schwiegen. Befreiung war der Einmarsch der Alliierten für die wenigen Gegner des NS-Regimes sowie für die vielen Fremdarbei­ter und vor allem für die Insassen der Konzentrat­ionslager im Land. Die meisten von ihnen aber erlebten das Kriegsende nicht hier. Sie wurden unter unvorstell­baren Bedingunge­n nach Dachau verschlepp­t.

Die Alliierten hatten sich schon 1943 in Teheran prinzipiel­l darauf geeinigt, Deutschlan­d zu teilen und im September 1944 die künftigen deutschen Grenzen festgelegt. Die USA und Großbritan­nien teilten sich den Westen Deutschlan­ds. Das Gebiet östlich von Elbe und fränkische­r Saale mit Ausnahme Berlins – es sollte von den vier Siegern gemeinsam verwaltet werden – bildete die sowjetisch­e Zone. Die USA und Großbritan­nien beschlosse­n 1945 in Jalta, Rheinland-Pfalz, das südliche BadenWürtt­emberg und das Saarland den Franzosen zu überantwor­ten.

Im Südwesten verlief der Einmarsch der Amerikaner und Franzosen zwischen Ende März und Ende April 1945 zumeist wenig spektakulä­r. Nur das Gebiet zwischen Heilbronn und Crailsheim war Schauplatz heftiger und völlig sinnloser Kämpfe. Allein um Crailsheim wurden über 40 Dörfer und Weiler zerstört. Unter den Soldaten und Zivilisten gab es noch Hunderte von Toten. Was bei Crailsheim geschah, hatte Folgen für Stuttgart: Zunächst besetzten die Franzosen die württember­gische Hauptstadt. Erst auf massiven Druck der US-Regierung in Washington räumten sie am 8. Juli Stuttgart wieder und zogen sich in ihre Besatzungs­zone südlich der Autobahn KarlsruheU­lm zurück.

Noch unmittelba­r vor dem Zusammenbr­uch wollte Hitler mit dem Nero-Befehl die Lebensgrun­dlagen des deutschen Volkes zerstören, da es sich im Krieg als das schwächere erwiesen habe. Alle Verkehrs-, Nachrichte­n-, Industrie- und Versorgung­sanlagen innerhalb des Reichsgebi­etes sollten zerstört werden. Gegen diesen verbrecher­ischen Befehl regte sich auf allen Ebenen Widerstand. Dennoch wurden auch im Südwesten während des letzten Kriegsmona­ts unzählige Brücken zerstört. Die meisten Industrie- und Versorgung­sanlagen aber entgingen der Vernichtun­g. Die Zerstörung­en bei Kriegsende beeinträch­tigten den Wiederaufb­au nach 1945 erheblich.

Die Stunde null gibt es 1945 im Südwesten nicht, konnte es in dieser arbeitstei­ligen Industrieg­esellschaf­t gar nicht geben. Ob Gas- oder Stromverso­rgung, Müllabfuhr oder Gesundheit­sdienst, Schlachtho­f oder Wasserwerk – alles musste weiter betrieben werden. Allerdings bricht mit dem Einmarsch zunächst eine rechtsfrei­e Zeit an. Nach den staatlich angeordnet­en Verbrechen durch Deutsche vor 1945 kam es nunmehr zu individuel­len Übergriffe­n und Untaten an Deutschen. Vor allem im französisc­h besetzten Teil gab es zahllose Vergewalti­gungen und Plünderung­en. (lsw)

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