Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Abschotten im Schlosshotel
Auch der VfB Stuttgart geht in Ludwigsburg in Quarantäne – und richtet seine Jugendarbeit neu aus
STUTTGART - Ruhig war es zuletzt beim VfB Stuttgart, so ruhig, dass man sich einmal die Woche im Videotext die Tabelle anschaute, um sich zu vergewissern, ob der Club noch existiert. Und tatsächlich, da ruhte er, der fünfmalige deutsche Fußballmeister: Immer auf Platz zwei der Zweitligatabelle, knapp vor dem Hamburger SV, vier Zähler hinter dem Tabellenführer Arminia Bielefeld, von dem man sich am 9. März 1:1 getrennt hatte – in einem Spiel, das, wie man heute weiß, nie mehr hätte stattfinden dürfen, zumindest nicht vor 54 000 Zuschauern. Des Coronavirus wegen.
Seither war nicht mehr viel vom Club zu hören. Mario Gomez erzählte, er habe während der trainingsfreien Zeit endlich mal die Gelegenheit genutzt, den Keller aufzuräumen und sammelte damit Pluspunkte bei allen waschechten Schwaben und Verfechtern der Kehrwoche. Erwin Staudt, der Ex-Präsident im neuen Expertenrat, monierte derweil die zu hohen Kosten von 65 Millionen Euro, die auf den VfB im Zuge des Stadionumbaus für die EM 2024 zukommen könnten. Zurecht vermutlich, denn dem Club werden bis Ende Juni wegen ausbleibender Zuschauereinnahmen bis zu fünf Millionen Euro netto fehlen, den möglichen Ausfall kommende Saison nicht einberechnet.
Das Coronavirus hat den Fußball derweil täglich im Griff – natürlich auch den VfB, der nicht nur seit Neuestem Mundschutzmasken mit VfBLogo verkauft, sondern sich seit Sonntag auch wie alle 35 DFL-Clubs in einer vertraglich fixierten Quarantäne befindet. Damit soll die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Spieler vor dem Neustart am Sonntag beim SV Wehen Wiesbaden noch mit dem Virus ansteckt, minimiert werden. Mit Trolley, Monitor und Yoga-Matte wurde Spielmacher Daniel Didavi also dabei beobachtet, wie er sich auf den Weg ins Schlosshotel Monrepos nach Ludwigsburg machte, um sich gemeinsam mit 27 Mitspielern, Betreuern und Trainerstab abzuschotten. Ob dem VfB das gelingt oder ob das gemeinsame Hotel, das Mannschaft und Betreuer nur zu den Trainingseinheiten verlassen sollen, die jungen Menschen erst recht dazu animiert, eine Art Corona-Happening zu veranstalten frei nach dem Vorbild von HerthaStürmer Salomon Kalou, ist dabei die Frage. Die Versuche des VfB, den
Standort des Hotels geheim zu halten, missglückten jedenfalls. Sowohl Bild als auch „kicker“listeten feinsäuberlich die 36 Unterkünfte aller Teams auf, was natürlich dazu führen könnte, das sich des nachts und morgens ein paar Fans vor den Eingängen versammeln könnten.
Vorstandschef Thomas Hitzlsperger, der vor knapp 13 Jahren das entscheidende Tor zum letzten Stuttgarter Meistertitel schoss, sieht den VfB und den Fußball derweil in der Pflicht. „Wir haben hier das Privileg, wieder spielen zu dürfen und haben eine große Verantwortung. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst und müssen das jeden Tag auch beweisen.“
Sollten Spieler des VfB Angst um ihre Gesundheit haben, können sie auf die Vereinsführung zukommen, sagte der 38-Jährige, aber: „Sie sind guten Mutes.“Sorgen seien zudem nichts Besonderes, man habe grundsätzlich
„immer ein offenes Ohr – wenn Spieler sich unwohl fühlen, können sie jederzeit auf uns zukommen“, das erwarte man sogar.
Trainer Pellegrino Matarazzo kündigte derweil an, am Mittwoch werde
Die Vision des VfB Stuttgart und seines Nachwuchszentrums
man erstmals wieder elf gegen elf spielen im Training, auch für alle Trainer der Liga sei dieser Neustart eine einmalige Situation. Nur vier Tage bis zum Ernstfall, dem Duell beim Liga-16. Wehen, sind tatsächlich wenig genug. Die Partien danach wurden derweil noch ebenso wenig exakt terminiert wie das Duell beim Ligaletzten in
Dresden, das eigentlich am 29. Mai stattfinden sollte – fünf Tage nach Ende der Dynamo-Quarantäne, was ein klarer Vorteil für Stuttgart wäre.
Öffentlich kaum beachtet stellte der VfB derweil vor ein paar Tagen sein neues Jugendkonzept vor. Der Club, einst Rekordmeister bei A- und B-Junioren und auch bei der WM 2018 noch immer der Verein, der am meisten deutsche WM-Teilnehmer stellte, die einst in seiner Jugend spielten, will wieder zurück zu seinen Wurzeln – zu dem, was ihn einst ausmachte,
Welche Kompetenzen benötigt ein Spieler im Jahr 2024? Auf Basis dieser Frage änderte der Club unter der Führung von Thomas Krücken, dem Sportdirektor des Nachwuchsleistungzentrums, und dem Bad Saulgauer NLZ-Administrationschef Rainer Mutschler, einst Marketingdirektor beim VfB, sein Konzept. Das Scouting wird ausgebaut, die individualisierte
Ausbildung von Spielern und Trainern verstärkt in den Blick genommen und der Nachwuchs laut Club nachhaltig mit den Profis verzahnt.
Dazu hat der VfB die Altersbereiche neugegliedert, und zwar in den Grundlagenbereich U 11 bis U 13, den Aufbaubereich U 14 bis U 16 und den Leistungsbereich U 17 bis U 21. Zusätzlich gibt es künftig eine Top-TalenteGruppe, die aus den besten U17- bis U21-Spielern besteht und direkten Anschluss an die Profis erhalten soll.
Auch das regionale Scouting wird laut VfB massiv ausgebaut – von bisher zwei auf zwölf Regionalscouts. Davon und von fünf Partner-Vereinen bzw. -Organisationen ("Satelliten") im Umkreis von 120 Kilometern um Stuttgart verspricht sich der VfB künftig ein flächendeckendes Scouting, vor allem im Bereich der U 11 bis U 13. Ein hauptamtlicher VfB-Trainer werde in wöchentlichen Vor-Ort-Terminen „die Qualität von Sichtung, Training und Schulung von talentierten jungen Spielern und ihren Trainern in den Regionen“sichern.
Um die individualisierte Ausbildung der Talente zu verbessern, wurden neue Positionen geschaffen. Im Leistungsbereich U 17 bis U 21 fungieren Andreas Schumacher und Krücken als Ausbildungsleiter; Daniel Teufel, bisher Co-Trainer der U19, übernimmt die Aufgabe im Aufbaubereich U 14 bis U 16, im Grundlagenbereich U11 bis U13 ebenfalls Schumacher – interimsweise.
Für die Verzahnung von Nachwuchs und Profis und die langfristige Kaderplanung ist künftig Michael Gentner zuständig, Bruder von ExVfB-Kapitän Christian Gentner. Freddy Gluding wird den Aufbau- und Grundlagenbereich bearbeiten und das Scouting-Satelliten-System verantworten.
Ziel sei, Profispieler zu entwickeln mit möglichst regionalen Wurzeln, sagte Krücken. Die Vision lautet: „Mit der Kraft der eigenen Jugend international spielen.“Am Sonntag geht es aber zunächst mal in Wehen weiter.
„Mit der Kraft der eigenen Jugend international spielen.“
Der VfB Stuttgart trauert um seinen langjährigen Zeugwart und Teambetreuer Jochen Seitz. 2002 erhielt der Backnanger die Ehrenmitgliedschaft des Vereins. Von 1968 bis 2002 war er Zeugwart der Profis, danach bis 2012 Zeugwart der Amateure. Am Freitag verstarb er im Alter von 78 Jahren.