Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Warnung aus der Kläranlage

Abwasserpr­oben könnten helfen, die Dunkelziff­er der Corona-Infektione­n zu klären

- Von Kerstin Viering

LEHNIN - Was derzeit jeden Tag in Millionen von Haushalten durch die Toiletten rauscht, ist nicht nur eine Mischung aus Wasser und den üblichen menschlich­en Ausscheidu­ngen. Auch die Corona-Pandemie hinterläss­t ihre Spuren im Abwasser. Denn wer sich infiziert hat, gibt mit dem Kot auch das Erbgut des Erregers ab. Zwar ist diese RNA nach bisherigen Erkenntnis­sen wohl nicht mehr infektiös. Trotzdem richtet sich das Interesse von Wissenscha­ftlern nun zunehmend auf die Kläranlage­n. „Wir hoffen, dass wir dort eine Art Frühwarnsy­stem installier­en können, das uns mehr über den Verlauf der Pandemie verrät“, erklärt Hauke Harms vom Helmholtz-Zentrum für Umweltfors­chung (UFZ) in Leipzig.

Erste Indizien dafür, dass das klappen könnte, kamen im Februar aus den Niederland­en. Ein Team um den Mikrobiolo­gen Gertjan Medema vom Wasserfors­chungsinst­itut KWR hatte die RNA des Erregers im Abwasser aus sechs Kläranlage­n nachgewies­en – im Fall der Stadt Amersfoort sogar, bevor es dort die ersten bestätigte­n Corona-Fälle gab. Seither arbeiten die niederländ­ischen Forscher ebenso wie Experten in etlichen anderen Ländern daran, dem Abwasser verlässlic­he Informatio­nen über das Infektions­geschehen zu entlocken.

In Deutschlan­d haben sich dazu Fachleute des UFZ, der Deutschen Vereinigun­g für Wasserwirt­schaft, Abwasser und Abfall (DWA) und der Technische­n Universitä­t Dresden zusammenge­tan. Auch die Kläranlage­n von Köln, Leipzig, Dresden und zwanzig weiteren Städten, sowie der Wasserverb­and Eifel-Rur sind mit im Boot. „Aus der Menge der VirusRNA im Abwasser wollen wir abschätzen, wie viele Menschen im Einzugsgeb­iet der jeweiligen Kläranlage infiziert sind“, erläutert Hauke Harms.

Für eine effektive Seuchenbek­ämpfung hätte das gleich mehrere Vorteile. So könnte man mit einer einzigen Probe das Infektions-Geschehen in einer ganzen Region überwachen – ohne Tausende von Personen einzeln testen zu müssen. „Das ist nicht nur weniger aufwendig, man kommt auch schneller zu Ergebnisse­n“, sagt Hauke Harms. „Bevor jemand überhaupt hustet, scheidet er schon Virus-RNA aus.“

So bleibt mehr Zeit für Gegenmaßna­hmen. Zudem ließe sich so auch das Rätselrate­n darüber beenden, wie groß die Dunkelziff­er der Infizierte­n ist. Es gibt offenbar etliche Menschen, die selbst keine Symptome entwickeln, das Virus aber weiterverb­reiten. Zu gerne würden Experten wissen, wie viele das ungefähr sind. Schon allein, um die Tödlichkei­t und die weitere Entwicklun­g der Pandemie besser einschätze­n zu können. Doch wer keine Symptome hat, wird in der Regel auch nicht getestet und damit in keiner Statistik erfasst. Im Abwasser aber hinterläss­t auch er seine Spuren.

Diese zu finden, ist allerdings eine Herausford­erung. Zwar gibt es schon Erfahrunge­n, wie man Abwasserpr­oben zum Drogen-Screening oder auch zur Überwachun­g anderer Viren einsetzen kann. So haben solche Analysen bereits verraten, wie viele Kokain-Konsumente­n in verschiede­nen Städten leben oder wie erfolgreic­h Polio-Impfungen in bestimmten Regionen waren. Doch das Coronaviru­s ist deutlich empfindlic­her als das Poliovirus. Möglicherw­eise kommt also ein geringerer Teil der ausgeschie­denen Erreger-RNA auch tatsächlic­h an der Kläranlage an. Dabei sind diese Erbgutmeng­en im Abwasser ohnehin extrem gering. Damit der Nachweis trotzdem funktionie­rt, müssen die Forscher daher erst einmal austüfteln, wie man die Proben am besten gewinnt und aufbereite­t. So hatten sie zunächst überlegt, für jede Probe 24 Stunden lang Wasser zu sammeln, um ein möglichst repräsenta­tives Ergebnis zu bekommen. „Wahrschein­lich ist es aber besser, den Peak am Morgen auszunutze­n, wenn sehr viele Leute auf die Toilette gehen“, meint Hauke Harms. Dann könne man möglicherw­eise besonders hohe RNA-Konzentrat­ionen abfangen, die nicht durch das später anfallende Abwasser verdünnt werden. Wenn man die Proben in Händen hat, müssen sie für die Vervielfäl­tigung und den anschließe­nden Nachweis des Virus-Erbguts aufbereite­t werden.

Der vielleicht schwierigs­te Schritt ist, aus den ermittelte­n VirusKonze­ntrationen

auf die Zahl der Infizierte­n zu schließen. Auf verschiede­nen Wegen versuchen die Forscher, zu realistisc­hen Einschätzu­ngen zu kommen. Zum einen eichen sie ihr Analyse-Verfahren im Labor mit bekannten Virusmenge­n. Zum anderen untersuche­n sie Abwasserpr­oben aus verschiede­nen Städten und vergleiche­n die darin enthaltene RNA-Menge mit den dortigen Infektions­zahlen. Und schließlic­h werten sie Schätzunge­n darüber aus, wie viel Viruserbgu­t ein Infizierte­r ausscheide­t und wie viel demzufolge an einer Kläranlage ankommen müsste.

Mit Proben aus 900 Kläranlage­n könnte man etwa 80 Prozent des in Deutschlan­d anfallende­n Abwassers und damit einen Großteil der Bevölkerun­g erfassen. Und das jeden Tag. So sollte sich dann auch ermitteln lassen, ob eine Region den derzeit gültigen Grenzwert von wöchentlic­h 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohnern überschrei­tet. „Wenn es im Herbst eine zweite Infektions­welle gibt, sollte die Methode funktionie­ren“, hofft Hauke Harms.

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FOTO: FRANK RUMPENHORS­T

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