Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Als der Buchhalter des Holocaust gefasst wurde
Im Mai 1960 verhaftete der israelische Mossad den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann – Der westdeutsche Geheimdienst hatte ihn unbehelligt gelassen
JERUSALEM (KNA) - „Ich habe der Knesset mitzuteilen, dass vor einiger Zeit israelische Sicherheitskräfte einen der größten Naziverbrecher aufgespürt haben: Adolf Eichmann.“Mit diesen Worten an das Parlament sorgte Israels Ministerpräsident David Ben Gurion am 23. Mai 1960 weltweit für Schlagzeilen.
Die Geschichte der Auffindung, Verhaftung und Entführung des NSVerbrechers, die sich stellenweise wie ein schlechter Actionthriller liest, gilt als eine der spektakulärsten Geheimdienstoperationen aller Zeiten. Der nachfolgende Prozess, der mit dem Todesurteil für Eichmann endete, wurde zu einem Meilenstein der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazis.
Am 24. Dezember 1944 setzte sich Adolf Eichmann ab. Einen Tag bevor die Rote Armee Budapest einschloss und der Deportation der Juden dort ein Ende setzte, brach der Stratege der Vernichtung nach Deutschland auf. Mit falschen Identitäten und Gelegenheitsjobs schlug er sich durch, wurde von den Amerikanern gefasst, entkam der Haft, versteckte sich weiter.
Über die sogenannte Rattenlinie gelang ihm 1950 mit Hilfe ranghoher Kirchenvertreter via Italien die Flucht nach Argentinien. Als staatenloser Ricardo Klement, so der Pass des Deutschen Roten Kreuzes, lässt er sich in guter Gesellschaft in Buenos Aires nieder. Längst war das Land zur sicheren Anlaufstelle für Tausende Gesinnungsgenossen geworden.
Zunächst schien die Geschichte seinem Sicherheitsgefühl recht zu geben. Denn niemand interessierte sich für den in Solingen geborenen Elektriker, der als Architekt der „Endlösung der Judenfrage“gilt. Früh stand der Nazi auf der Liste der gesuchten Kriegsverbrecher.
Seit 1956 lag daher auch ein Haftbefehl vom Amtsgericht Frankfurt am Main vor.
Damals hatte der westdeutsche Geheimdienst bereits seit vier Jahren Hinweise auf Eichmanns Aufenthaltsort. An seiner Verhaftung jedoch hatte man kein Interesse.
So war es der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Sohn jüdischer Eltern, der durch mehrjähriges Insistieren an der deutschen Justiz vorbei den israelischen Geheimdienst Mossad ins Spiel brachte.
Andere Einzelpersonen trugen Puzzleteilchen bei: Etwa der nach Argentinien ausgewanderte deutsche Holocaustüberlebende Lothar
Hermann, dessen Tochter Sylvia eine Romanze zu Eichmanns Sohn Klaus pflegte. Oder Geheimagent Manus Diamant, der einer ehemaligen Geliebten Eichmanns ein Foto abschwatzte, und „Nazi-Jäger“Simon Wiesenthal mit seinen Recherchen.
Am 11. Mai 1960 griff der Mossad in Buenos Aires zu. Neun Tage und dessen schriftliches Einverständnis später brachte man Ricardo Klement alias Adolf Eichmann an Bord einer El-Al-Maschine nach Israel. Erst zwei Tage später trat Ben Gurion vor die Knesset mit den Worten: „Adolf Eichmann ist bereits in Haft und wird hier in Kürze nach dem Gesetz aus dem Jahr 1950 zur Verfolgung von NS-Verbrechern vor Gericht gestellt werden.“
Die Ankündigung war Schock und Genugtuung zugleich – und für Israelis der Zeit ein nachhaltig prägendes Ereignis, an das sich die meisten bis heute erinnern. 15 Jahre hat es gedauert, bis Adolf Eichmann zur Verantwortung gezogen wurde. Für Israel sollte es der einzige nennenswerte Nazi-Prozess bleiben – und das einzige Todesurteil, das je vollstreckt wurde.
Für die israelische Gesellschaft eröffnete der Prozess erstmals einen Gesprächsraum für ein Thema, das bis dahin kaum jemand anzurühren wagte. „Für uns bedeutete der Prozess eine äußerst schmerzhafte Auseinandersetzung mit diesem Trauma, ja er kam einer gigantischen Unterbrechung jedweder Art von Verdrängung gleich“, erinnerte sich der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, in seiner Autobiografie.
Auch für die Aufarbeitung der Verbrechen in Deutschland sei das Jerusalemer Verfahren maßgeblich gewesen, sagte die deutsch-jüdische Politologin Hannah Arendt, die als Prozessbeobachterin nach Israel gereist war, 1964 in einem Radiointerview: „Ich bin der Meinung, dass der Eichmann-Prozess wirklich als ein Katalysator für die Prozesse in Deutschland gewirkt hat.“