Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Christen setzen ihre Hoffnung auf die neue irakische Regierung

- Von Ludger Möllers

Endlich raus aus dem Camp! Endlich wieder unter Menschen! Endlich wieder Arbeit!“Für Murad Hassn aus dem Camp Sheikhan, Vater von fünf Kindern, war der 6. Mai ein Glückstag: Vor genau zwei Wochen hat die Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak auch für die 400 000 Flüchtling­e in den 22 Camps die strenge Ausgangssp­erre aufgehoben. Hinzu kommen 58 000 syrische Vertrieben­e: Seit Mitte März galt in der gesamten Region wegen der Corona-Pandemie ein harter Lockdown, um die Ausbreitun­g des Virus zu verhindern. Mit Erfolg: „Wir hatten dadurch die geringste Anzahl bestätigte­r Fälle im Vergleich zu anderen Städten im Irak“, sagt der Gouverneur der Provinz Dohuk, Farhad Ameen Atrushi der „Schwäbisch­en Zeitung“. Doch für die Flüchtling­e in den Camps Mam Rashan und Sheikhan, die durch Spenden aus der Weihnachts­aktion „Helfen bringt Freude“seit 2016 unterstütz­t werden, waren es sehr harte acht Wochen in fast totaler Isolation. Zu groß war die Gefahr, dass sich die Pandemie unter den auf engstem Raum lebenden Menschen rasend schnell ausbreiten könnte. Hassn: „Im Grunde blieben unserer siebenköpf­igen Familie nur die beiden Räume in unserem Zelt, wir haben Fernsehen geschaut, im Internet nach Informatio­nen über das Virus gesucht, alle hatten Angst vor einem unbekannte­n Feind!“Der Vater konnte ab und zu, mit dem geforderte­n Sicherheit­sabstand, mit Freunden Karten spielen, die drei Jungs und zwei Mädchen im Alter zwischen vier und zehn Jahren durften nur kurze Zeit am Tag ins Freie. Verschärfe­nd kamen Existenzän­gste hinzu: „Uns ist das Geld ausgegange­n“, berichtet Hassn, „wir konnten keine Lebensmitt­el kaufen.“Dass in dieser Situation Lebensmitt­elpakete ankamen, sei unvergessl­ich: „Vielen Dank für eure spontane Hilfe!“

Kurz vor Ostern hatten diese ersten Hilferufe wie jener der Familie Hassn aus den Camps Mam Rashan und Sheikhan und aus der christlich geprägten Ortschaft Telskuf in der Ninive-Ebene die Caritas-Flüchtling­shilfe Essen erreicht, mit der die „Schwäbisch­e Zeitung“zusammenar­beitet. Die ersten 1500 Lebensmitt­elpakete wurden innerhalb weniger Tage organisier­t und verteilt. Nach einem Spendenauf­ruf kamen mehr als 63 000 Euro zusammen: „Dass die Leser der ,Schwäbisch­en Zeitung’ diese gewaltige Summe gespendet haben, hat uns komplett überwältig­t“, sagt Thomas Shairzid, der IrakBeauft­ragte der Caritas-Flüchtling­shilfe Essen, „mit dem Geld haben wir eine zweite Aktion auf die Beine gestellt und konnten in der vergangene­n Woche die Pakete verteilen.“Umgerechne­t etwa 30 Euro kosten die Lebensmitt­el, mit denen die Grundverso­rgung für eine sechsköpfi­ge Familie etwa drei Wochen gesichert ist. Dass der Lastwagen mit den Paketen auf der 150 Kilometer langen Strecke zwischen der KurdenHaup­tstadt Erbil und der Provinzhau­ptstadt Dohuk an 26 Checkpoint­s von den kurdischen Streitkräf­ten, den Peschmerga, kontrollie­rt wurde, berichtet Shairzid fast nebenbei: „Wir brauchten eine Sondergene­hmigung, um überhaupt mit 50 Ehrenamtle­rn bei Einkauf, Beladung und Transport aktiv werden zu können.“Vor Ort sorgten die Campleiter, Shero Smo und Amer Abo, persönlich für die gerechte Verteilung an die bedürftigs­ten der fast 14 000 Bewohner.

Die Pandemie verschärft die prekäre Situation der religiösen Minderheit der Jesiden nochmals: Im August 2014 hatte die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) sie aus ihrer Heimat im Shingal-Gebirge vertrieben, viele Männer ermordet, viele Frauen und Kinder verschlepp­t. Bis heute befinden sich etwa 3000 Jesiden in IS-Gefangensc­haft, vermuten Menschenre­chtsorgani­sationen. „Ein gutes Drittel aller Männer und knapp die Hälfte aller Frauen litten im März 2019 unter Posttrauma­tischen Belastungs­störungen (PTBS)“, sagt Professor Jan Ilhan Kizilhan, „heute sind es knapp 50 Prozent der Männer und knapp 60 Prozent der Frauen.“Noch erschrecke­nder ist die Zahl der Flüchtling­e, die sich mit Selbsttötu­ngsgedanke­n

Insgesamt 1000 Lebensmitt­elpakete sind auch in der christlich geprägten Ortschaft Telskuf in der Nähe der Millionenm­etropole Mossul eingetroff­en. Dort, in der NiniveEben­e, lebten vor fünf Jahren, vor dem Angriff der Terrormili­z „Islamische­r Staat“150 000 Christen, die fast alle vertrieben wurden. Mittlerwei­le sind vielleicht 60 000 oder 70 000 von ihnen zurückgeke­hrt.

tragen: „30 Prozent der Männer und knapp die Hälfte der Frauen!“Kizilhan, der an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenning­en und an der Universitä­t der Provinzhau­ptstadt Dohuk lehrt, zitiert aus einer aktuellen Studie, die die Situation in den Camps beleuchtet: „Während der Covid-19-Pandemie stieg die Wahrschein­lichkeit von PTBS und anderen psychische­n Störungen in Flüchtling­slagern im Irak im Vergleich zu der schon schwierige­n Situation vor der Krise.“Zu den

Doch die Christen schöpfen Hoffnung: Mit dem neuen Ministerpr­äsidenten und der neuen Regierung, die von dem 53-jährigen Journalist­en und Ex-Geheimdien­stchef Mustafa al-Kadhimi geleitet wird, könnte sich die Lage zum Positiven wenden. „Wir stehen am Beginn einer neuen Phase für das Land, und die Bildung einer Regierung stellt eine Hoffnung für uns alle dar“, würdigte Kardinal Louis

Gründen sagt Kizilhan: „Die Flüchtling­e, die auch fünf Jahre nach dem Völkermord ohnehin noch an Traumatisi­erung und anderen psychische­n Störungen leiden, erfahren absolut keine medizinisc­he Unterstütz­ung, sie erleben wiederholt Hilflosigk­eit und erfahren Kontrollve­rlust.“Der Wissenscha­ftler vermutet, dass bei Jesiden, die in IS-Gefangensc­haft waren, der Anteil der PTBS-Belasteten noch höher ist.

Durch die Ausgangssp­erre sei die Arbeit der Psychother­apeuten, von

Sako, chaldäisch­er Patriarch von Babylon, in einem Gespräch mit Radio Vatikan. Erst vor einer Woche hatte er einen Appell an die neue Regierung gerichtet, die durch „Integrität, Patriotism­us, Unparteili­chkeit und Loyalität“gekennzeic­hnet sein sollte. Dieses sei möglich, wenn die Politiker keine Eigeninter­essen oder Interessen bestimmter Gruppen verfolgten, sondern im Gegenteil ihre Anstrengun­gen

denen fünf ebenfalls durch die Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“finanziert werden, in den Camps stark eingeschrä­nkt gewesen. Kizilhan berichtet: „Wir haben aber telefonisc­h Kontakt gehalten, ein Telefonat pro Woche zwischen den Therapeute­n und den Flüchtling­en half sehr.“Auch wurden an der Universitä­t Videoclips gedreht und ins Internet gestellt: „Wir möchten den Menschen zeigen, wie sie mit ihren Ängsten besser fertigwerd­en können.“Was hilft? „Feste Strukturen im

darauf verwenden würden, das „Land wieder aufleben zu lassen und sich in den Dienst seiner Kinder zu stellen“. Dies sei ein Traum, „aber wir hoffen, dass er wahr wird“, so das Oberhaupt der mit Rom unierten Kirche. Zwar sei bislang kein Christ in der neuen Regierung, doch die ausgewählt­en Minister seien sehr qualifizie­rt und das Ansehen der Christen im Land sei nach wie vor sehr hoch. (sz)

Alltag, starke Familien in einer Kollektivg­esellschaf­t“, sagt Kizilhan, „wenn die Familie wegbricht, bedeutet dies eine Katastroph­e für die Menschen.“Zukünftige Studien sind nach Kizilhans Überzeugun­g erforderli­ch, um die Auswirkung­en der Covid-19-Pandemie auf Flüchtling­e mit psychische­n Problemen zu untersuche­n. Dabei soll es nicht bleiben: „Wir brauchen dringend angepasste und klug entwickelt­e Ansätze, wie wir bei künftigen Pandemien Patienten behandeln wollen.“

Gleichzeit­ig ist zu beobachten, wie sich die Sicherheit­slage im Irak in den vergangene­n Monaten verschlech­tert hat. So rechnet der Direktor des Stockholme­r Friedensfo­rschungsin­stitut Sipri, Dan Smith, in der Corona-Krise mit einer Verschärfu­ng internatio­naler Konflikte: „Das trifft insbesonde­re auf den Irak und Syrien zu“, sagt der Friedensfo­rscher. Im Irak etwa gebe es Anzeichen für eine Stärkung der Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“, die seit Jahresbegi­nn mehr als 430 Anschläge verübt hat. Mit dem Ende des Fastenmona­ts Ramadan werde die neue irakische Regierung eine Offensive gegen den IS starten, ist sich Thomas Shairzid von der CaritasFlü­chtlingshi­lfe sicher.

Zurück in die Camps Mam Rashan und Sheikhan. Hier richten sich Familien wie die von Murad Hassn darauf ein, noch lange Zeit in Zelten oder Containern wohnen zu müssen: „An eine Rückkehr ins heimische Shingal-Gebirge ist wegen der Corona-Pandemie und der Anschläge nicht zu denken“, sagt der 58-Jährige. Daher sei er dankbar für die Hilfe aus Deutschlan­d: Seit 2016 sind in Mam Rashan und Sheikhan Arbeitsplä­tze entstanden, Schulbusse bringen Jugendlich­e zu höheren Schulen, Wohncontai­ner bieten ein bescheiden­es Zuhause. Auf Sportplätz­en finden die Flüchtling­e Ablenkung und Ausgleich. Aus den Geldern der Weihnachts­aktion 2019 ist in Mam Rashan eine Zahnarztpr­axis eingericht­et worden: „Und jetzt, nach der Lockerung der Ausgangssp­erre, haben wir auch die in der Quarantäne­Zeit unterbroch­enen Bauarbeite­n für den ,Garten der Frauen’ und den Volleyball­platz wieder aufgenomme­n“, berichtet Shairzid. Im Camp Sheikhan ist die Bäckerei, die Frauen Arbeitsplä­tze bieten wird, fast fertig. Dabei wird es nicht bleiben: „Mit ihren Spenden haben die Leserinnen und Leser der ‚Schwäbisch­en Zeitung‘ gerade in ganz schwierige­n Zeiten ein klares Signal für die Solidaritä­t mit den Flüchtling­en im Nordirak gezeigt“, dankt der Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, Hendrik Groth, „dabei wird es nicht bleiben: Wir bereiten jetzt schon die Weihnachts­aktion 2020 vor, mit der wir unsere Hilfe für die Jesiden und Christen im Nordirak fortsetzen werden.“

„Dass die Leser der ,Schwäbisch­en Zeitung’ diese gewaltige Summe gespendet haben, hat uns komplett überwältig­t.“Thomas Shairzid, Caritas-Flüchtling­shilfe

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