Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Kein Interesse
Der Berliner Tiergarten-Mord ist in Russland kein Thema
Dicke Aktenordner werden an alle verteilt: Darin enthalten sind knapp 80 Urkunden und weitere Beweismittel, die den ungeheuren Verdacht bestätigen sollen: Darunter Gutachten zur DNA und einem Gesichtsabgleich, Berichte von Verbindungsbeamten aus Tiflis und Moskau und ein Untersuchungsbericht
MOSKAU (schos) - Russland nimmt von dem Prozess in Berlin wenig Notiz. Der Kreml schwieg am Mittwoch, die Staatsagentur Tass berichtete betont neutral vor allem über die technischen Einzelheiten des Verfahrens. Die gemäßigt liberale Nesawissimaja Gaseta bezweifelte in einem Vorbericht, dass es der Staatsanwaltschaft gelingen könnte, eine Beteiligung russischer Geheimdienste zu beweisen. Und deutete an, der Georgier sei eher ein Opfer tschetschenischer Bluträcher geworden. Noch im vergangenen Jahr erregten die Nachrichten über die Verwicklung russischer Sicherheitsorgane zum Pass des Angeklagten, der weder biometrische Daten noch Speicherchip enthält. Mit den gefälschten Papieren war der Russe am 17. August 2019 von Moskau nach Paris geflogen und von dort über Warschau weiter nach Berlin gereist. Zur Tarnung soll er sich in Paris und Warschau touristische Sehenswürdigkeiten
in den Mord auch in Moskau Aufsehen. Aber längst hat in der öffentlichen Wahrnehmung der Giftanschlag auf den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und seine Heilung in der Berliner Charité die Todesschüsse im nahen Tiergarten verdrängt.
Den Tod eines tschetschenischen Ex-Rebellen in Westeuropa nimmt die politische Öffentlichkeit Russlands eher als Routine wahr. „Die Experten hier betrachten es keineswegs als Verbrechen, dass unsere Geheimdienste ähnlich wie die Israelis geflohene Terroristenführer im Ausland ausschalten“, sagt der kremlnahe Politologe
angeschaut haben, heißt es in der Anklage.
Ein weiteres Indiz für einen staatlichen Auftragsmord sei, dass der Name Vadim Krasikov 2013 wegen des Verdachts der Ermordung eines russischen Kaufmanns auf einer Interpol-Fahndungsliste stand, aber 2015 von dort wieder verschwand,
Alexei Muchin der „Schwäbischen Zeitung“. Allerdings geriet bisher nicht der russische Sicherheitsapparat in Verdacht, sondern Ramsan Kadyrow, der Chef der Republik Tschetschenien, wenn ins Ausland exilierte Tschetschenen eines gewaltsamen Todes starben. Zuletzt wurde im Juli in Wien der Blogger Mamichan Umarow erschossen, ein Intimfeind Kadyrows.
Aber auch der meldete sich nur zum Fall Nawalny zu Wort. Vor ein paar Tagen schlug Kadyrow diesem sarkastisch vor, ihn auch als Auftraggeber seiner Vergiftung zu beschuldigen. heißt es von den Anklägern. Über das Opfer schickte dagegen der russische Inlandsnachrichtendienst 2012 eine Meldung an das Deutsche BKA, dass Tornike K. im Kaukasus Terroristen ausbilde, die Anschläge auf russische Behörden planen würden.
In dem Prozess soll unter anderem geklärt werden, aus welchem Motiv der Angeklagte handelte – wegen der Bezahlung oder aus politischer Einstellung? Als der Russe kurz nach der Tat festgenommen wurde, hatte er rund 3000 Euro bei sich. Die Ermittler vermuten, dass das Geld zur Finanzierung seines Berlin-Aufenthalts dienen sollte. Kurz nach der Tat floh der Angeklagte mit dem Fahrrad ans Spreeufer, wo er sich in einem Gebüsch umzog und sein Rad sowie die Tasche mit der Pistole im Wasser versenkte. Gestellt wurde er wenig später, als er versuchte, einen E-Roller auszuleihen.
Die Bundesregierung wirft der russischen Regierung fehlende Kooperation vor. Sollten die Richter die staatlichen Verstrickungen in den Mord bestätigen, wäre dies ein weiterer Rückschlag für das ohnehin schon angeschlagene Verhältnis beider Länder.