Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

EU-Parlament verschärft Klimaziel

Treibhausg­ase sollen bis 2030 um 60 Prozent reduziert werden – Industrie warnt vor Überforder­ung

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Um 60 Prozent will das Europaparl­ament den CO2-Ausstoß bis 2030 senken – gemessen an der 1990 europaweit produziert­en Menge. Darauf einigte sich am Dienstagab­end eine knappe Mehrheit der Abgeordnet­en. Damit wird die Latte für das Zwischenzi­el bis zur 2050 angestrebt­en Klimaneutr­alität erneut angehoben. Die EU-Kommission hatte 55 Prozent gefordert und war damit bereits weit über den Beschluss des vergangene­n Jahres hinausgega­ngen, der noch 40 Prozent angestrebt hatte.

Die 40 Prozent erreicht Deutschlan­d bereits dieses Jahr und kann so eine ehrgeizige Selbstverp­flichtung erfüllen – allerdings nur, weil wegen des coronabedi­ngten Wirtschaft­seinbruchs viele Fabriken stillstehe­n und in Zeiten von Reisebesch­ränkungen und Homeoffice der Autoverkeh­r deutlich zurückgega­ngen ist. Umweltverb­ände und grüne Politiker hoffen, dass die pandemiebe­dingte Zäsur und die demnächst zu erwartende­n Fördermill­iarden den erforderli­chen radikalen Umbau der Wirtschaft beschleuni­gen. Allerdings müssten sich auch die Bürger von der Lebensweis­e, wie wir sie heute kennen, komplett verabschie­den.

Am deutschen Beispiel lässt sich zeigen, was das 60-Prozent-Ziel bedeutet. Innerhalb von zehn Jahren müsste die Hälfte von dem geschafft werden, was in den letzten dreißig Jahren erreicht wurde. Dafür reicht weder das deutsche Klimapaket aus dem vergangene­n Jahr, noch die aktuell geltenden Reduktions­ziele für die Autoindust­rie. Deshalb ist sich der CDU-Europaabge­ordnete Markus Pieper sicher, dass „die Fehleinsch­ätzung dieser Vorgabe“deutlich wird, wenn das 60-Prozent-Ziel in Gesetzentw­ürfen umgesetzt werden muss.

Und sein Fraktionsk­ollege Peter Liese ergänzt: „Wir müssen uns darin umstellen, wie wir reisen, wie wir unsere Häuser beheizen. Ich persönlich glaube auch, dass wir unsere Essgewohnh­eiten umstellen müssen. 60 Prozent anzustrebe­n wäre eindeutig eine zu hohe Belastung für uns alle“, so der klimapolit­ische Sprecher der Konservati­ven im Europaparl­ament. Er ist überzeugt, dass eine Mehrheit für die 60 Prozent stimmte, um in den anstehende­n Verhandlun­gen mit den Regierunge­n eine bessere Ausgangspo­sition

zu haben. Am Ende werde man sich bei 55 Prozent einigen.

Doch auch das ist eine Kröte, die für viele Mitgliedsl­änder schwer zu schlucken ist. Die polnische Regierung zum Beispiel beschloss kürzlich, erst 2049 aus der Kohleverst­romung auszusteig­en und in den kommenden Jahren weitere Kohlekraft­werke zu bauen. Im Vergleich dazu ist Deutschlan­d gut aufgestell­t. Doch auch hier fürchtet die Industrie, dass sich zu strenge Klimaziele negativ auf die wirtschaft­liche Erholung auswirken könnten. In seinem am Dienstag veröffentl­ichten Appell „Mehr Realismus in der Politik“warnt der BDI vor zu großen Belastunge­n angesichts von „strukturel­lem Wandel, steigendem Protektion­ismus und der Corona-Pandemie.“

Umweltverb­ände machen massiv Druck, dass die zur Belebung der Wirtschaft bereitgest­ellten zusätzlich­en Milliarden ausschließ­lich für den grünen Umbau eingesetzt werden sollen. Zwar würden Arbeitsplä­tze in Traditions­bereichen wegfallen. Das werde aber durch kräftiges Wachstum im Bereich Erneuerbar­e Energien, Elektromob­ilität und Gebäudedäm­mung wettgemach­t. Wie fragwürdig diese Rechnung ist, zeigt der Bausektor. Knapp 15 Prozent des Kohlendiox­idausstoße­s stammen aus der Gebäudehei­zung. Konkurrier­ende Auflagen für Umweltschu­tz, Gebäudesic­herheit und Städteplan­ung machen das Bauen zu einem extrem langwierig­en und immer teureren Unterfange­n. Entspreche­nd knapp und teuer sind Neubauwohn­ungen. Beim Nachrüsten von Altbauten kommen Eigentümer oft an technische und finanziell­e Grenzen.

Noch mehr Kopfzerbre­chen bereitet Klimaschüt­zern der Individual­verkehr. Dessen CO2-Bilanz ist seit 1990 praktisch unveränder­t geblieben, obwohl der Verbrauch in der jeweiligen Leistungsk­lasse gesenkt werden konnte. Doch auf den Straßen sind ein Drittel mehr Pkw und 71 Prozent mehr Lkw unterwegs als im Stichjahr 1990. Dadurch und durch den Trend zu PS-stärkeren Motoren wird der Einspareff­ekt wieder ausgehebel­t. 95 Prozent der Flotte nutzen unveränder­t Benzin oder Diesel als Antriebsmi­ttel. Selbst wenn mit den Corona-Milliarden Ladestatio­nen an jeder Ecke gefördert werden sollten, müsste sich auch das Kaufverhal­ten der Verbrauche­r drastisch ändern.

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