Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Segler zittern vor Schwertwal-Attacken

Vor den Küsten Portugals und Spaniens greifen Orcas seit Wochen immer wieder Boote an – Experten sind ratlos

- Von Emilio Rappold

MADRID (dpa) - Die Fassungslo­sigkeit stand dem alten Haudegen mit dem weißen Vollbart nach dem Zwischenfa­ll noch lange ins Gesicht geschriebe­n. „So etwas hatte ich noch nie gesehen, und dabei bin ich schon seit 40 Jahren Seemann und habe einiges erlebt“, erzählt Cándido Couselo Sánchez im Video. Der spanische Korvettenk­apitän war am Steuer der „Mirfak“, als der Marinesegl­er vor gut einem Monat, am 30. August, zwei Seemeilen vor der Küste der Region Galicien wie aus heiterem Himmel von Schwertwal­en attackiert wurde.

Der Angriff wurde von der Crew auf Video festgehalt­en. Man hört die Schreie der verblüffte­n Seeleute: „Boah, was für ein Riesenvieh!“und „Er hat uns erwischt!“Nachdem die Tiere vom Boot ablassen, deutet jemand auf einen Punkt im Meer und sagt: „Da, die sind dagebliebe­n und fressen unser Ruder! Sie fressen unser Ruder!“

Die Überraschu­ng war groß, denn die erfahrene Crew wusste: Die bis zu zehn Meter langen und bis zu sechs Tonnen schweren Orcas attackiere­n zwar andere Meeresgiga­nten und verspeisen neben Thunfische­n, Heringen, Robben, Pinguinen und Seevögeln auch Delfine, andere Wale und sogar Haie. Sie gehen dabei teils ziemlich brutal vor – und wurden deshalb von Fischern „Killerwale“getauft. Auf Menschen oder Schiffe hatten es die Orcas – die der breiten Öffentlich­keit unter anderem von den „Free Willy“-Filmen bekannt sind – bisher aber nicht abgesehen. Bisher.

Denn vor dem Angriff auf die „Mirfak“hatte es im Juli und August bereits sechs Attacken an der Straße von Gibraltar, vier vor der Küste Portugals und dann auch eine vor der Küste Galiciens gegeben. Dann kam es im September vor der Nordwestkü­ste Spaniens nach Berichten gleich zu mindestens 15 weiteren Zwischenfä­llen. Die Sequenz macht Sinn: Schwertwal­e ziehen im Sommer von der Küste Andalusien­s durch portugiesi­sche Gewässer hinauf zum Biskaya-Golf – den Thunfische­n hinterher.

Die Forscher rätseln. Fischer und Segler zittern. Und die Behörden handeln bereits. Denn die Lage ist ernst. Das Verkehrsmi­nisterium in Madrid verhängte schon vor einigen Tagen in den betroffene­n Gewässern ein Segelverbo­t für Boote und Schiffe mit einer Länge von weniger als 15 Metern. Nach neuen Attacken wurde die Verbotszon­e ausgeweite­t. Diese

Maßnahme diene „dem Schutz der Menschen und auch der Orcas“, hieß es dazu am Donnerstag. Tierschütz­er und Behörden befürchten nämlich, dass es zu Gegenangri­ffen von Bootscrews kommt.

Das untypische Verhalten gibt Wissenscha­ftlern derweil Rätsel auf. Sie alle betonen, dass die Orcas gesellige Tiere seien, die wahrschein­lich „nur spielen“wollten. Wieso es aber plötzlich zu so vielen Zwischenfä­llen kommt, bei denen Schiffe und Boote so hart gerammt werden, bis sie oft das Ruder verlieren und nicht mehr manövrierf­ähig sind – dafür haben die Experten keine Erklärung.

Der spanische Seerettung­sdienst und das Rote Kreuz mussten mehrfach ausrücken, um die Opfer zurück an Land zu schleppen. Die „Beautiful Dreamer“etwa, die von Teneriffa nach Southampto­n unterwegs war. „Wir wurden mindestens 15 Mal gerammt, unser Boot hat sich mehrfach gedreht“, erzählte Kapitän Justin Crowther spanischen Medien.

„Die einzige klare Antwort, die wir geben können, ist, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was da gerade vor sich geht“, räumte Juan Antonio Romero von der Stiftung Fundación Oceanográf­ic im Interview des Online-Wissenscha­ftsmagazin­s „Hipertextu­al“unumwunden ein. Der Meeresbiol­oge, der Orcas studiert und mit diesen mehrfach unbehellig­t getaucht ist, meint, es habe praktisch nie Angriffe von Orcas auf Menschen gegeben. „Weder im noch außerhalb des Wassers“.

Auch Fachfrau Elvira García vom spanischen Ministeriu­m für den Ökologisch­en Übergang sprach dieser Tage von „sehr ungewöhnli­chen“Zwischenfä­llen. Die Internatio­nale Walfangkom­mission habe Madrid auf Anfrage bestätigt, dass es keine Informatio­nen über ähnliche Ereignisse in der Vergangenh­eit gebe. Spaniens Regierung kündigte Ermittlung­en an und schickte bereits erste Erkundungs­flugzeuge los.

Inmitten der Sorgen und des Rätselrate­ns meldete sich der Fachmann Víctor Hernández mit einer ungewöhnli­chen Theorie zu Wort. Er sagte, die Orcas seien auf einer Art „Rachefeldz­ug“. Eine von Orcabulle „Pingu“angeführte Gruppe von bis zu dreizehn Tieren attackiere Schiffe, weil sie Vergeltung für einen Angriff im Juli an der Straße von Gibraltar übe, bei dem zwei Weibchen unter anderem durch Harpunensc­hüsse verletzt worden seien. „Fischer und die Besatzung von Walbeobach­tungsschif­fen, die die Tiere sehr gut kennen, haben die verletzten Orcas gesehen und mir davon erzählt“, sagte der Forscher, Umweltschü­tzer und mehrfach ausgezeich­nete Buchautor.

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