Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Die Welt ist nicht auf Kurs, den Hunger zu besiegen“
Welthungerhilfe-Präsidentin Marlehn Thieme über die Verantwortung von Politik und Verbrauchern
BERLIN/BONN (KNA) - In Berlin hat die Welthungerhilfe am Montag ihren Welthunger-Index vorgestellt. Angesichts von Corona, Kriegen und Wirtschaftskrisen hält der aktuelle Report fest: „In vielen Ländern verbessert sich die Situation zu langsam, in manchen verschlechtert sie sich sogar.“„Nur politische Lösungen können da grundlegend helfen“, sagt Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe, im Interview. Und: Derzeit sei die Welt nicht auf Kurs, den Hunger zu bekämpfen.
Frau Thieme, im aktuellen Welthunger-Index wird die Situation in elf Ländern als „sehr ernst“eingestuft. Wo schaut die Welthungerhilfe besonders hin?
Die Entwicklungen im Sudan und Südsudan, Kongo und in Syrien sehen wir mit großer Sorge. Im Sudan vernichten große Überschwemmungen Felder und Tiere von Menschen, die ohnehin täglich ums Überleben kämpfen. Im Kongo und in Syrien führen bewaffnete Konflikte zu Hunger und Vertreibung. Für die Mehrzahl der Länder mit einer ernsten Hungersituation braucht es vor allem Friedensbemühungen, um die Ernährungslage der Bevölkerung zu verbessern. Nur politische Lösungen können da grundlegend helfen.
Hand aufs Herz: Ist das Ziel „null Hunger bis 2030“angesichts von Corona und immer häufigeren extremen Wetterereignissen überhaupt noch erreichbar?
In der Tat ist die Welt nicht auf Kurs, um den Hunger bis 2030 zu besiegen. Wir müssen unsere Anstrengungen deutlich erhöhen und in zentralen Bereichen wie dem Klimaschutz und auch der Handelspolitik gegensteuern. Dazu gehört auch ein Umdenken, wie wir unsere Nahrung produzieren und exportieren. Aber wir werden weiter für dieses Ziel kämpfen und den betroffenen Menschen im globalen Süden eine Stimme geben.
Die Welthungerhilfe befürchtet eine starke Zunahme von Hunger und Armut weltweit durch die CoronaPandemie. Besonders in Afrika südlich der Sahara und in Südasien sei die Situation schon vor der Pandemie alarmierend gewesen, sagte die Präsidentin der Organisation. Zusätzlich werde die Situation durch die Folgen des Klimawandels wie zunehmende Dürrekatastrosogar phen verschärft. Nach dem Welthungerindex litten Ende 2019 rund 690 Millionen Menschen unter chronischem Hunger, weitere 135 Millionen seien von einer akuten Ernährungskrise betroffen gewesen. Insgesamt seien Menschen in 50 Ländern – ein Viertel aller Länder weltweit – von Hunger und Unterernährung betroffen. In 14 Ländern habe sich die Situation seit 2012
verschlechtert. Dazu gehören unter anderem Kenia, Madagaskar, Venezuela und Mosambik. Die Welthungerhilfe befürchtet nun, dass das Ziel der Vereinten Nationen, bis 2030 auf „null Hunger“zu kommen, weit verfehlt werden könnte. Die Fortschritte seien infolge von Ungleichheit, Konflikten, Vertreibung und Klimawandel viel zu gering. (dpa/epd)
Hunger in der Welt, das ist eine Botschaft aus Studien wie dem Welthunger-Index, lässt sich nur durch gemeinsame Anstrengungen der Staatengemeinschaft besiegen. Tatsächlich jedoch sinkt die Akzeptanz für Multilateralismus. Werden beispielsweise die USA in absehbarer Zeit eine Kursänderung vornehmen?
Die großen Herausforderungen wie etwa den Klimawandel oder eine Pandemie wie Covid-19 können wir nur gemeinsam erfolgreich bewältigen. Das hat sich in den letzten Monaten sehr deutlich gezeigt. Am Horn von Afrika verlieren Menschen ihre gesamte Existenz durch Überschwemmungen, obwohl sie nicht zu den Verursachern der Klimakrise gehören. Die wirtschaftlichen Auswirkungen von weltweiten Lockdowns machen ebenfalls nicht vor Ländergrenzen halt. Die Einsicht, dass wir in der „einen Welt“aufeinander angewiesen sind, wird sich langfristig durchsetzen.
Eine Forderung lautet, Nahrungsmittelkonzerne für Umweltschutz und Einhaltung von Menschenrechten haftbar zu machen. Lassen sich Konzerne wie Nestlé oder Coca-Cola dadurch beeindrucken? Gesunde und ausreichende Ernährung ist ein Menschenrecht. Doch gerade im Anbau landwirtschaftlicher Exportprodukte im globalen Süden wird dieses Recht oft nicht ausreichend geschützt. Daher haben wir einen Food Security Standard entwickelt, der Unternehmen dabei hilft, dieser sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Tchibo hat angekündigt, dieses Instrument einzusetzen, und auch andere Unternehmen haben großes Interesse daran.
Seit Sonntag läuft die „Woche der Welthungerhilfe“. Was können Verbraucher tun?
Jeder kann bereits beim Einkaufen viel bewirken: regionale Produkte bevorzugen und nur das in den Einkaufswagen legen, was auch wirklich verbraucht wird. Allein in Deutschland landen jährlich elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Auch beim Fleischkonsum sollten wir uns einschränken und die Zahl der privaten Flugreisen überprüfen.