Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Fehler über Fehler
Untersuchung belastet Tiroler Verantwortliche wegen des Umgangs mit dem Corona-Ausbruch im Skiort Ischgl
INNSBRUCK - Wie kein anderer Ort steht die Tiroler Fremdenverkehrsgemeinde Ischgl für den Ausbruch der Corona-Pandemie in halb Europa. In den ersten Tagen der dramatischen Entwicklung in dem Skigebiet ist einiges schiefgelaufen, stellte jetzt eine von der Tiroler Landesregierung eingesetzte unabhängige Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Vizepräsidenten des österreichischen Obersten Gerichtshofs Ronald Rohrer fest und widersprach damit Beteuerungen aller Behörden, stets alles richtig gemacht zu haben. In dem am Montag in Innsbruck vorgelegten Abschlussbericht werden beinahe allen Beteiligten vom Ischgler Bürgermeister bis zum österreichischen Bundeskanzler Fehler bescheinigt. „Es lagen Fehleinschätzungen von allen Seiten vor“, sagte Rohrer.
Im allerersten Augenblick hat die zuständige Bezirkshauptmannschaft Landeck mit der angeordneten Schließung des Après-Ski-Lokals „Kitzloch“noch alles richtig gemacht, berichtete Kommissionsvorsitzender Rohrer. Das Desaster kündigte sich in der Nacht vom 3. auf den 4. März dieses Jahres durch ein EMail aus Island an. Von da an wusste man in Ischgl, dass Skitouristen aus dem hohen Norden das Corona-Virus aus Tirol mit nach Hause genommen hatten. Danach allerdings wurde das Lokal kurzzeitig wieder aufgemacht und auch der Betrieb in den anderen 14 Après-Ski-Betrieben lief erst mal weiter. „Falsch“, urteilte die Kommission.
Einen der gravierendsten Fehler leistete sich der Ischgler Bürgermeister Werner Kurz – nur zufällig ein Namensvetter des österreichischen Kanzlers – , gegen den deshalb jetzt auch die Innsbrucker Staatsanwaltschaft ermittelt. Kurz hatte sich in den kritischen Tagen, in denen Ischgl zur Virenschleuder wurde, einen Tag Zeit gelassen und die Verordnung zur sofortigen Beendigung des Skibetriebs erst am 14. März bekannt gemacht. So liefen die Seilbahnen auch noch am darauffolgenden Samstag. Es sei ohnehin schon „epidemiologisch falsch“gewesen, mit dem Stopp des Skibetriebs bis zum 12. März zu warten, befand die Kommission. Aus ihrer Sicht wäre der 8. oder 9. März der richtige Zeitpunkt für das abrupte Ende des Spaßbetriebs gewesen.
Kein Ruhmesblatt waren auch öffentliche Informationen des Landes Tirol vom 5. und 8. März, welche die
Ansteckungsgefahren herunterspielten. Es erscheine wenig wahrscheinlich, hieß es darin, dass es in Tirol zu Ansteckungen komme und sich das Virus in der Bevölkerung ausbreite. „Unwahr“und „schlecht“beurteilte der Ex-OGH-Vize diese Informationspolitik. Allerdings konnte die Kommission keine Anhaltspunkte dafür finden, dass die örtliche Tourismuswirtschaft massiv auf Bezirkshauptmannschaft und Gemeinde eingewirkt hätten, den Skibetrieb so lange wie möglich weiterlaufen zu lassen. Die Gemeinde Ischgl ist immerhin zu einem Viertel an der Silvretta Seilbahn AG beteiligt.
Den größten Schub erfuhr die Corona-Pandemie vor allem wegen der mangelnden Abstimmung zwischen Wien und Tirol. Und daran ist Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der von der Kommission neben 52 anderen Auskunftspersonen befragt wurde, nicht ganz unschuldig. Ohne vorherige Absprache mit der Bezirkshauptmannschaft
Landeck hatte der Kanzler laut Rohrer „überraschend ohne unmittelbare Zuständigkeit“angekündigt, das Paznauntal und Sankt Anton am Arlberg unter Quarantäne zu stellen. Durch einen „Kommunikationsfehler“, welcher in der „missverständlichen Ankündigung des Bundeskanzlers“zu sehen sei, kam bei Tausenden von ausländischen Gästen im Skigebiet nicht an, dass sie nicht in ihrem Urlaubsort gleichsam gefangen gehalten werden sollten, sondern für sie über das Wochenende vom 14. auf den 15. März eine „kontrollierte Abreise“vorgesehen war. „Kontrolliert“sollte heißen: Unter Hinterlassung ihrer Kontaktdaten.
So kam es in der Region zu einer regelrechten Panik. Viele Touristen hasteten noch in Skischuhen zu ihrem Auto, warfen die Leih-Ski einfach in den Eingangsbereich der Geschäfte oder ließen persönliche Sachen in den Hotelzimmern zurück, beschrieb Rohrer die „Rette-sichwer-kann“-Stimmung. So verließen nach Schätzungen Rohrers 2000 bis 2500 Ausländer, überwiegend Deutsche, fluchtartig und unerkannt das Skigebiet, wovon etliche das Virus hinaus in die Welt trugen.
Die schwarz-grüne Tiroler Landesregierung unter Führung von Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) kommt in dem Expertenbericht bis auf die völlig verfehlten Landesinformationen noch einigermaßen unbeschadet davon. Allerdings wunderte sich die Kommission, dass der zuständige Tiroler Landesrat Bernhard Tilg (ÖVP) offenbar mit der ganzen Katastrophe nichts zu tun haben wollte und die Führung bei der Krisenbewältigung nach unten auf den Landesamtsdirektor übertrug. Der sei dadurch „überfrachtet“worden, formulierte Rohrer.
Der Regierung in Wien bescheinigte die Kommission, nicht rechtzeitig die gesetzliche Grundlage für eine solche Krise geschaffen zu haben. Das österreichische Gesundheitsministerium
habe „trotz frühen Wissens über die Ansteckungsgefahr den überarbeiteten Pandemieplan nicht veröffentlicht“. Das „veraltete Epidemiegesetz“Österreichs sei weder auf seine Anwendbarkeit in Tourismusgebieten geprüft, noch seien rechtzeitig Schritte eingeleitet worden, „das Gesetz den Gegebenheiten der heutigen Mobilität anzupassen“, kritisiert der Kommissionsbericht. Es gebe nach wie vor keine Pläne, wie man in Katastrophenfällen Tausende von Personen aus engen Gebirgstälern herausbringen könne, sagte Rohrer.
Das Ischgl-Virus kam aus Frankreich. Die bei den infizierten Gästen aus Ischgl gefundenen Viren passten nach wissenschaftlicher Auswertung der Genom-Daten zum Mutationsprofil der Virenstämme von Fällen in einem französischen Skiresort. Dorthin war Ende Januar 2020 ein Gast aus Singapur eingereist, der wiederum Kontakt zu einem Chinesen aus Wuhan gehabt hatte.