Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Operation geglückt, die „beste Band der Welt“lebt
Die Ärzte liefern mit dem überfälligen neuen Album „Hell“Überzeugendes ab
RAVENSBURG - Achteinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Zeit, die Die Ärzte (DÄ) gebraucht haben, um ihr schleichendes Aus abzuwenden und mit „Hell“(Hot Action Records) ein neues Album zu veröffentlichen. Und das gehört zu den stärksten Platten, die die selbsternannte „beste Band der Welt“in ihrer fast 40-jährigen Karriere eingespielt hat.
Gefühlt ist die Welt noch eine ganz andere, als Farin Urlaub (57), Bela B. (57) und Rodrigo González (52) am 13. April 2012 mit „auch“ihr zwölftes Studioalbum veröffentlichen. Christian Wulff tritt als Bundespräsident ab, der Schwarz-WeißFilm „The Artist“wird mit dem Oscar ausgezeichnet und Barack Obama darf nach seiner Wiederwahl weitere vier Jahre als US-Präsident regieren. Eine Pandemie ist etwas völlig Abstraktes, das man aus Katastrophenfilmen wie „Outbreak“kennt, Verschwörungstheoretiker erwarten das Ende der Welt gemäß des Maya-Kalenders und den Begriff Pegida gibt es noch nicht. Es hat sich eine Menge Stoff angehäuft. Themen, die sich für eine linksgerichtete Band wie Die Ärzte, die mit „Schrei nach Liebe“1993 einen der bekanntesten Anti-Nazi-Songs ersonnen hat, geradezu aufdrängen, um in clever-humorvollen Texten verarbeitet zu werden.
Das gelingt. Mit „Hell“– einem bewusst doppeldeutigen Titel – kommen Die Ärzte im Krisenjahr 2020 an. Und in einer scheinbar immer extremeren Welt, deren gesellschaftliche Polarisierung beängstigend und deprimierend sein kann, ob Corona oder Rechtspopulismus. Es gehört zu Farin Urlaubs unerschütterlichem Optimismus, dass er in „Liebe gegen Rechts“fordert, nicht zu resignieren: „Niemand wird als Faschist geboren/ man muss um sie kämpfen, sonst sind sie verloren“, singt der große Blonde da zu beschwingten Banjoklängen, bevor der Refrain dann melodisch an „Viva Las Vegas“erinnert. Der Gitarrist, der die Reiselust im Namen trägt, eröffnet nach dem an K.I.Z. erinnernden Albernheits-Intro „E.V.J.M.F.“auch die Platte: „Plan B“ist ein positives Energiebündel, das typischer nicht sein könnte. Energie, Melodie, angezerrte Stromgitarre – man kann sich bildhaft vorstellen, wie der Vorhang fällt, als der Song nach knapp 40 Sekunden so richtig Fahrt aufnimmt. Doch bis es so weit ist, wird es dauern. Livestreams sind keine Alternative
zu verschwitzten Konzertmarathons, machten Die Ärzte im Interview mit „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni jüngst klar. Dabei schreien die Songs von „Hell“nach Livedarbietung, wie Farin Urlaub in der ARD sagte. So auch „Achtung: Bielefeld“, in dem Schlagzeuger Bela B. allein mit dem Stichwort „Aleppo“die Stimmung von „humorvoll“auf „nachdenklich“dreht. Das Trio arbeitet sich an Verschwörungsschwurblern („Fexxo Gigol“) ebenso ab wie an Wutbürgern („Woodburger“). Trotz aktueller Bezüge kommt der typische Ärzte-Humor aber nicht zu kurz, etwa wenn Farin Urlaub in „Thor“auf kreative Weise mit dem Marvel-Superheldenhype und Gewichtsschwankungen spielt oder in „Warum spricht niemand über Gitarristen“mit seiner Skandalfreiheit kokettiert.
Musikalisch ist „Hell“extrem vielfältig geraten – hier eine Sitar, dort Blechbläser, da drüben eine Querflöte: Der DÄ-Klangkosmos ist bunter als je zuvor. Da wirkt die morbide Ballade „Leben vor dem Tod“mit Gitarre, Streichern und Glockenspiel beinah minimalistisch. So darf man „Hell“als Lichtblick sehen – in einem ansonsten recht düsteren 2020.