Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Mehr Kontrolle über die Regierunge­n

Angesichts der strengen Corona-Maßnahmen fordern Abgeordnet­e mehr Mitsprache

- Von Florian Peking und Agenturen

RAVENSBURG - Restaurant­s und Kneipen zu, keine Reisen, kein kulturelle­s Leben, so wenig private Kontakte wie irgend möglich: Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus gehen sehr weit. FDP-Politiker sehen die Grundrecht­seingriffe bereits als „Ritt auf Messers Schneide“. Auch in Baden-Württember­g und Bayern fühlen sich Abgeordnet­e übergangen und fordern mehr Mitsprache der Parlamente.

Wie entstehen Corona-Auflagen? Um die Ausbreitun­g des Corona-Virus zu bekämpfen, greift die Politik in die Grundrecht­e der Bürger ein – zum Beispiel durch Kontaktein­schränkung­en. Grundlage dafür ist das Infektions­schutzgese­tz. Dort ist festgeschr­ieben, dass der Staat Grundrecht­e wie etwa die Versammlun­gsfreiheit oder die Unverletzl­ichkeit der Wohnung einschränk­en darf, um die Gesundheit der Bevölkerun­g zu schützen. Die Maßnahmen müssen aber verhältnis­mäßig sein. Das Problem: Nirgendwo steht im Detail, wann genau, warum, in welcher Form und für wie lange welche Rechte eingeschrä­nkt werden dürfen. Und: Der Bundestag hatte im März eine „epidemisch­e Lage von nationaler Tragweite“für zunächst ein Jahr festgestel­lt. Das verschafft dem Bundesgesu­ndheitsmin­isterium zusätzlich­e Kompetenze­n – es kann etwa Meldepflic­hten für Fahrgäste im grenzübers­chreitende­n Bahn- und Busverkehr direkt verordnen. Ein Großteil der Einschränk­ungen beruht indes auf Verordnung­en der Länder, mit denen diese die Absprachen mit dem Bund umsetzen. Im Unterschie­d zu Gesetzen müssen solchen Verordnung­en Parlamente nicht zustimmen. Diese CoronaVero­rdnungen werden von den Landesregi­erungen verändert und an die aktuelle Infektions­lage angepasst. Am Donnerstag kamen daher in Stuttgart und München die jeweiligen Ministerru­nden zusammen. Die Entscheidu­ngen sollen danach in Verordnung­en formuliert und „zum Wochenende hin“in den Umlauf der Ministerie­n gebracht werden.

Was gilt im Süden?

Der baden-württember­gische Landtag hat am 22. Juni als erstes Bundesland ein Pandemiege­setz verabschie­det, das dem Parlament mehr Mitsprache­recht bei der Entscheiin­nerhalb dung über Corona-Maßnahmen einräumt. „Die Corona-Verordnung der Landesregi­erung muss dem Landtag binnen 24 Stunden zugeleitet werden“, sagt Winfried Mack, Ellwanger Landtagsab­geordneter und stellvertr­etender Fraktionsv­orsitzende­r der CDU. Damit sei gewährleis­tet, dass die Regierung ihrer Verantwort­ung nachkommen könne, dabei aber direkt vom Parlament kontrollie­rt werde. Im Konfliktfa­ll könne der Landtag die Verordnung sogar außer Kraft setzen oder verändern. Außerdem dürfen die Verordnung­en nicht mehr unbegrenzt gelten. „Nach zwei Monaten läuft jede Corona-Verordnung aus“, so Mack. Sie müsse dann vom Landtag in seiner nächsten Sitzung verlängert werden, was so zum Beispiel Ende September erfolgt sei. „Wenn sie der Landtag nicht verlängert, tritt die Corona-Verordnung

von vier Wochen außer Kraft“, erklärt Mack. Am Freitag will der Landtag zu einer Sondersitz­ung zusammenko­mmen, um über die jüngsten Corona-Maßnahmen zu sprechen. Doch die grün-schwarze Landesregi­erung will wohl nicht über die Pläne abstimmen lassen – bis dahin sei die Verordnung noch gar nicht fertig, hieß es am Donnerstag. FDP-Fraktionsc­hef Hans-Ulrich Rülke will die Regierungs­fraktionen von Grünen und CDU dazu zwingen: „Wir werden einen Dringlichk­eitsantrag einbringen, die Maßnahmen im Landtag zur Abstimmung zu bringen und streben eine namentlich­e Abstimmung an.“Abgestimmt wird erstmals auch in Bayern: Am Freitag trifft sich der Landtag zu einer Sondersitz­ung, um über die Anti-Corona-Politik von Bund und Ländern abzustimme­n.

Wie reagiert die baden-württember­gische Landesregi­erung auf Kritik an diesem Vorgehen?

Trotz dem gesetzlich geregelten Mitsprache­recht gibt es in BadenWürtt­emberg immer wieder Kritik am Beschluss von Corona-Maßnahmen. Zuletzt hatte die FDP der Landesregi­erung vorgeworfe­n, die Mitbestimm­ung des Landtags durch Schlupflöc­her zu umgehen. In einem Brief an Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) kritisiere­n die stellvertr­etenden FDP-Fraktionsv­orsitzende­n Nico Weinmann und Jochen Haußmann, dass eine Vielzahl von Einschränk­ungen statt auf der Grundlage von Verordnung durch Erlass an die Land- und Stadtkreis­e durchgeset­zt würden. An den Erlassen sei der Landtag weder beteiligt noch darüber informiert worden. Dem widerspric­ht die Landesregi­erung:

„Von einer fehlenden Einbeziehu­ng des Landtags kann keine Rede sein“, teilt ein Sprecher von Manfred Lucha der „Schwäbisch­en Zeitung“mit. Seit der Verabschie­dung des Pandemiege­setzes im Sommer beschäftig­ten sich Abgeordnet­e in öffentlich­en Sitzungen der Ausschüsse, aber auch im Plenum mit den Corona-Verordnung­en der Landesregi­erung und stimmten darüber ab. Entscheidu­ngen müssten aufgrund der dynamische­n Entwicklun­g oftmals kurzfristi­g getroffen werden, um die Gesundheit der Bürger zu schützen und eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems zu vermeiden. „Dafür ist es unabdingba­r für die Exekutive, Gebote und Verbote zu erlassen“, so der Sprecher. Dank des neuen Gesetzes würden die Abgeordnet­en ausreichen­d beteiligt, so auch CDU-Politiker Mack: „Wir schaffen es, in einer parlamenta­rischen Demokratie Corona wirksam zu bekämpfen, ohne diese abzuschaff­en.“

Was sagen Experten dazu?

„Ich kann die grundsätzl­iche Kritik der Abgeordnet­en verstehen, die gern ein bisschen mehr mitreden würden“, sagt Verfassung­srechtler Wolfgang Armbruster der „Schwäbisch­en Zeitung“, „aber, was die Gewaltente­ilung angeht, sehe ich da kein Problem.“Die Landtage könnten Verordnung­en jederzeit debattiere­n. Kontrolle gebe es außerdem durch die dritte Gewalt: „Die Gerichte überprüfen die Verordnung­en und schreiten gegebenenf­alls ein.“Die Landesregi­erungen müssten sich also durchaus für die Maßnahmen verantwort­en. Dass das „Check and Balance“der Gewaltente­ilung funktionie­re, zeigten die zahlreiche­n Urteile, durch die Corona-Maßnahmen in der Vergangenh­eit wieder gekippt wurden – etwa beim Beherbergu­ngsverbot. Außerdem erfordert die effektive Bekämpfung einer Pandemie laut Armbruster eine gewisse Schnelligk­eit bei Entscheidu­ngen: „Wie sollen Hunderte Abgeordnet­e eine Sache klären, bei der schnell reagiert werden muss?“Für den Rechtswiss­enschaftle­r Volker Boehme-Nessler sind die neuen Corona-Maßnahmen dagegen nicht haltbar. Es sei „verfassung­srechtlich und demokratis­ch ein Unding“, dass der Bundestag an den aktuellen Beschlüsse­n überhaupt nicht beteiligt worden sei, sagte Boehme-Nessler am Donnerstag im WDR-Radio.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA

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