Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Mord verjährt nicht

Eine Arbeitsgru­ppe des LKA soll sich um ungeklärte Fälle in Baden-Württember­g kümmern

- Von Alexander Graf

Dass der neue Hinweis richtig heiß sein könnte, war Andreas Nußbaumer sofort klar. 15 Jahre waren seit dem gewaltsame­n Tod einer Frau in Bad Krozingen (Kreis Breisgau-Hochschwar­zwald) vergangen, ohne dass ein Täter ermittelt werden konnte. Im Sommer 2018 hatte der Freiburger Kriminalha­uptkommiss­ar plötzlich wieder eine Spur auf dem Schreibtis­ch. „Da regt sich jedes Ermittler-Gen in einem, und es beginnt zu kitzeln“, erinnert sich der 33-Jährige. „Aber gerade dann muss man besonders besonnen vorgehen.“

Bis zur Verhaftung des später verurteilt­en Mörders vergingen noch rund zwei Monate, in denen 35 Beamte unter Leitung Nußbaumers den Fall neu aufrollten. Mord verjährt nicht. Deshalb gelten diese

Fälle erst als abgeschlos­sen, wenn ein Täter gefunden wurde. Werden die Ermittlung­en vorerst ergebnislo­s eingestell­t, handelt es sich in der Sprache der Kriminalis­ten um einen „Cold Case“, einen „kalten Fall“.

Dass solche Kapitalver­brechen später doch noch aufgeklärt werden können, gelingt immer wieder. Zuletzt etwa im Fall des Mordes an einer Frau aus Sindelfing­en. Die 35-Jährige war im Sommer 1995 auf dem Nachhausew­eg angegriffe­n und mit zwölf Messerstic­hen getötet worden. Im Februar dieses Jahres wurde ein 69-Jähriger in Hamburg festgenomm­en. Die Fahnder waren bei einer neuerliche­n Auswertung der DNA-Spuren auf ihn gestoßen. 2007 war der Mann wegen der Tötung einer anderen Frau verurteilt worden – deshalb tauchte er nun in der Datenbank auf.

Wie erfolgreic­h die Bearbeitun­g ungelöster Fälle in Baden-Württember­g

ist, kann offiziell niemand sagen. Auf Anfrage teilt das Landeskrim­inalamt in Stuttgart mit, es gebe keine Statistik, die ausschließ­lich „Cold Cases“erfasse. Werden Fälle aus der Vergangenh­eit später gelöst, fließt der Ermittlung­serfolg in die aktuelle Erfassung.

Ein grobe Vorstellun­g bekommt man aber im Gespräch mit den Polizeiprä­sidien: Etwa 50 solcher Fälle gibt es derzeit beim Mannheimer Präsidium. Von rund 40 ungelösten Kapitalver­brechen sprechen die Kollegen in Freiburg.

Manche Ermittler arbeiten über viele Jahre hinweg an der Aufklärung eines Verbrechen­s. Wenn bei ihrer Pensionier­ung die Bilder der Opfer an der Büro-Pinnwand abgenommen werden, ist das für manche nicht leicht. „Man fühlt bei diesen Fällen schon eine besondere persönlich­e Verantwort­ung, die Arbeit im Sinne der Opfer und

Angehörige­n fortzuführ­en“, sagt Andreas Nußbaumer.

Wie regelmäßig und intensiv Altfälle bearbeitet werden, ist in jedem Polizeiprä­sidium etwas anders geregelt. Oft kümmern sich einzelne Beamten als sogenannte Paten darum. Allerdings: Aktuelle Fälle, Personalma­ngel und die immer noch lückenhaft­e Digitalisi­erung von Akten verhindern oft, dass sich Ermittler wirklich nachhaltig mit einzelnen Verbrechen beschäftig­en können.

Vier Umzugskart­ons mit Aktenordne­rn mussten Nußbaumer und ein Kollege aus dem Keller des Freiburger Präsidiums holen und deren Inhalt eigenhändi­g einscannen, um effektiv mit dem Material arbeiten zu können. So ein Aufwand ist meist nur zu rechtferti­gen, wenn ein heißer Hinweis von außen kommt.

Das alles könnte sich jetzt ändern: Seit Anfang 2019 widmet sich eine Arbeitsgru­ppe aus KripoErmit­tlern und Spezialist­en des LKA dem Thema „Cold Cases“. Neben der erstmalige­n statistisc­hen Erfassung der landesweit­en Fälle geht es dabei vor allem um eine künftige Neuausrich­tung der Ermittlung­sarbeit. Möglich ist beispielsw­eise die Gründung einer eigenständ­igen Sondereinh­eit, die sich ausschließ­lich den liegen gebliebene­n Aktenberge­n widmen soll.

Die Leiterin der Arbeitsgru­ppe, Sabine Rieger, würde eine solche Entscheidu­ng begrüßen. „Diese Art der Ermittlung ist nicht für jeden etwas“, sagt die Kriminalha­uptkommiss­arin beim LKA. Riesige Aktenberge, inzwischen gestorbene Zeugen, nicht mehr existente Tatorte – das kann zu Ermittler-Frust führen.

Rieger dagegen ist von den ganz speziellen Herausford­erungen dieser Fälle fasziniert. „Man muss dabei versuchen, das Vergangene zum Sprechen zu bringen“, sagt sie.

Oft könne einem die verstriche­ne Zeit sogar helfen, sagt Rieger. Zum einen biete die erst in den 1990er-Jahren eingeführt­e DNAAnalyse heute ganz neue kriminalte­chnische Möglichkei­ten. Zum anderen wiegt die Last der Mitwissers­chaft mit den Jahren oft immer schwerer. So seien beispielsw­eise Ex-Partner nach einer Trennung eher bereit, gegen einen Verdächtig­en auszusagen.

Auch im Krozinger Mordfall war es letztlich ein Hinweis aus dem Umfeld des Täters, der zur Verhaftung führte. „Solche Menschen schleppen oft das Gefühl mit sich herum, endlich diesen Druck loswerden zu wollen“, sagt Nußbaumer. Auch für die Ermittler bedeute die erfolgreic­he Arbeit an einem alten Fall, ein Stück Verantwort­ung mit gutem Grund abgeben zu dürfen.

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