Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Zwischen Infektionsschutz und Freiheit
Warum Polizei und Gerichte sich mit den Corona-Demonstrationen so schwertun
STUTTGART - Die eskalierte Demonstration von Gegnern der Corona-Maßnahmen und der Polizeieinsatz in Leipzig werfen auch im Süden Deutschlands viele Fragen auf: Was wiegt schwerer – das Versammlungsrecht oder der Infektionsschutz? Wie sollen sich Polizisten verhalten, wenn in Pandemie-Zeiten Tausende von Menschen ohne Masken dicht zusammenstehen? Auch die Entscheidungen von Gerichten, die solche Versammlungen genehmigen, kann nicht jeder nachvollziehen. Die wichtigsten Fragen im Überblick.
Warum genehmigen Gerichte solche Demonstrationen, obwohl sich Teilnehmer zuletzt nicht an Infektionsschutzmaßnahmen hielten? Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Ein Versammlungsverbot darf nicht pauschal ausgesprochen werden, sondern muss in jedem Einzelfall geprüft werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei das Recht auf Meinungs- und das Recht auf Versammlungsfreiheit, die im Grundgesetz garantiert werden. „Die Behörden dürfen nur dann Beschränkungen erlassen, wenn unmittelbar in die Rechte anderer eingegriffen wird oder wenn Meinungen in Gewalt umzuschlagen drohen“, sagt Verfassungsrechtler Christoph Gusy von der Universität Bielefeld. Der Gegenstand einer Demonstration dürfe keine Rolle spielen.
Warum sind die Urteile umstritten?
Besonders von der Polizei kommt Kritik. „Wir würden uns wünschen, dass die Verwaltungsrichter, die solche Entscheidungen treffen, sich einmal selbst vor Ort ein Bild machen“, sagt Ralf Kusterer, Vorsitzender der baden-württembergischen Polizeigewerkschaft. „Es ist doch fast ein bisschen blauäugig, wenn man davon ausgeht, dass die Maskenverweigerer sich bei einer solchen Veranstaltung an gewisse Vorschriften halten, obwohl sie ja gerade diese Vorschriften ablehnen.“Das Problem: Die Polizei stößt mit ihren Mitteln bei Corona-Demos an ihre Grenzen. „Es liegt mir fern, die Justiz zu kritisieren, aber wir haben derzeit ein grundsätzliches Problem mit unserem polizeilichen Eingriffsinstrumentarium“, sagt Uwe Stürmer, Polizeipräsident in Ravensburg. „Wenn im Moment Leute in größerer Zahl in Versammlungen zusammenkommen, die sich nicht an die Auflagen halten, lassen sich diese Auflagen nur sehr schwer mit polizeilicher Gewalt durchsetzen. Denn damit würde man ja das eigentliche Ziel der Maßnahmen, den Infektionsschutz, konterkarieren. Insofern ist es gut, wenn man in der Grundrechtsabwägung dessen, was man an Versammlungsfreiheit erlaubt, auch in den Blick nimmt, was überhaupt durchsetzbar ist. Wenn man weiß, dass es Teile dieser Menschen darauf anlegen, sich ganz bewusst über die derzeit gebotenen AHA-Verhaltensregeln hinwegzusetzen, und das wiederholt, dann liegt uns manche richterliche Entscheidung in der Durchsetzung schwer im Magen.“
Wie reagiert die Justiz?
Der Deutsche Richterbund (DRB) mahnte nach den Vorwürfen mehr Sachlichkeit in der Diskussion an. Auch Wolfgang Tresenreiter vom Verein der Richter und Staatsanwälte Baden-Württemberg kennt die Problematik um die Akzeptanz von Urteilen: „Allerdings fordern wir selbstverständlich nicht ein, dass jeder begeistert ist“, sagt er. „Man muss den Rechtsweg und den Rechtsstaat akzeptieren. So lange man das macht, darf man trefflich anderer Meinung sein.“Der badenwürttembergische Justizminister
Guido Wolf (CDU), selbst einst Verwaltungsrichter, sagt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“: „Als Justizminister bin ich auch der Auffassung, dass der Politik bei der Bewertung richterlicher Urteile Zurückhaltung am besten zu Gesicht steht. Selbst wenn einem im Einzelfall ein Ergebnis nicht gefallen sollte, dürfen wir uns gerade in so dynamischen und aufwühlenden Zeiten wie diesen glücklich schätzen, dass in unserem demokratischen Rechtsstaat unabhängige Gerichte staatliche Entscheidungen nochmals überprüfen.“
Was sagt der baden-württembergische Innenminister?
Thomas Strobl (CDU) verweist darauf, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zwar ein wichtiges Gut sei, Versammlungen aber nur friedlich und ohne Waffen stattfinden dürfen. „Wenn im Vorfeld einer Versammlung deutlich wird, dass eine nicht gerade kleine Zahl von Teilnehmern sich nicht an die Regeln halten und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit missbrauchen wollen, dann müssen die Behörden Auflagen erteilen und diese sind einzuhalten – ganz einfach“, sagte Strobl der „Schwäbischen Zeitung“. Er erwarte von den Verwaltungsgerichten eine ganzheitliche Beurteilung der Rechtslage, in der sowohl die Perspektive der Versammlungsanmelder als auch die der Versammlungsbehörde und der Polizei und vor allem die der unbeteiligten Öffentlichkeit einfließt.
Welche Abwägungen trifft die Polizei bei solchen Einsätzen?
„In Abhängigkeit der Lageentwicklung sind alle Einsatzmaßnahmen der Polizei stets im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu beurteilen“, erklärt die baden-württembergische Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz. „Deshalb kann es im Einzelfall auch angezeigt sein, auf Verstöße, beispielsweise gegen die Maskenpflicht oder das Abstandsgebot, nicht sofort zu reagieren, sondern diese zunächst ,nur’ beweiskräftig zu dokumentieren.“Die Auflösung einer Versammlung sei deshalb stets nur ultima ratio, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Wie hoch ist das Infektionsrisiko bei einer Demo im Freien?
Der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch, glaubt, dass deutlich weniger als ein Prozent der Ansteckungen unter freiem Himmel stattfinden. „Corona ist ein Innenraumproblem“, sagt der AerosolExperte. Zur Demonstration in Leipzig sagt Scheuch: „Ich glaube nicht, dass sich da viele Leute angesteckt haben.“Auch nach Massenversammlungen in den USA oder der Demonstration gegen die staatlichen CoronaMaßnahmen in Berlin seien keine Ansteckungen bekannt geworden.
Was soll mit Quarantäne-Verweigerern passieren?
Darüber sind vor allem Innenminister Strobl und Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) unterschiedlicher Meinung. Strobl will Quarantäne-Verweigerer notfalls in Kliniken zwangseinweisen. Lucha hatte hingegen von Einzelfällen gesprochen, für die keine zentrale Einrichtung aufgebaut werden müsse. Im Landtag sagte Strobl am Donnerstag, seine Initiative betreffe „hartnäckige Quarantäne-Verweigerer“. Deren Dauerüberwachung könne die Polizei nicht leisten. Die Menschen erwarteten aber, geschützt zu werden. Strobl berichtete, die Polizei habe während der Pandemie bei 725 000 Personenkontrollen im Land 87 000 Verstöße gegen Vorschriften festgestellt.