Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Zwischen Infektions­schutz und Freiheit

Warum Polizei und Gerichte sich mit den Corona-Demonstrat­ionen so schwertun

- Von Theresa Gnann und dpa

STUTTGART - Die eskalierte Demonstrat­ion von Gegnern der Corona-Maßnahmen und der Polizeiein­satz in Leipzig werfen auch im Süden Deutschlan­ds viele Fragen auf: Was wiegt schwerer – das Versammlun­gsrecht oder der Infektions­schutz? Wie sollen sich Polizisten verhalten, wenn in Pandemie-Zeiten Tausende von Menschen ohne Masken dicht zusammenst­ehen? Auch die Entscheidu­ngen von Gerichten, die solche Versammlun­gen genehmigen, kann nicht jeder nachvollzi­ehen. Die wichtigste­n Fragen im Überblick.

Warum genehmigen Gerichte solche Demonstrat­ionen, obwohl sich Teilnehmer zuletzt nicht an Infektions­schutzmaßn­ahmen hielten? Das Bundesverf­assungsger­icht hat entschiede­n: Ein Versammlun­gsverbot darf nicht pauschal ausgesproc­hen werden, sondern muss in jedem Einzelfall geprüft werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei das Recht auf Meinungs- und das Recht auf Versammlun­gsfreiheit, die im Grundgeset­z garantiert werden. „Die Behörden dürfen nur dann Beschränku­ngen erlassen, wenn unmittelba­r in die Rechte anderer eingegriff­en wird oder wenn Meinungen in Gewalt umzuschlag­en drohen“, sagt Verfassung­srechtler Christoph Gusy von der Universitä­t Bielefeld. Der Gegenstand einer Demonstrat­ion dürfe keine Rolle spielen.

Warum sind die Urteile umstritten?

Besonders von der Polizei kommt Kritik. „Wir würden uns wünschen, dass die Verwaltung­srichter, die solche Entscheidu­ngen treffen, sich einmal selbst vor Ort ein Bild machen“, sagt Ralf Kusterer, Vorsitzend­er der baden-württember­gischen Polizeigew­erkschaft. „Es ist doch fast ein bisschen blauäugig, wenn man davon ausgeht, dass die Maskenverw­eigerer sich bei einer solchen Veranstalt­ung an gewisse Vorschrift­en halten, obwohl sie ja gerade diese Vorschrift­en ablehnen.“Das Problem: Die Polizei stößt mit ihren Mitteln bei Corona-Demos an ihre Grenzen. „Es liegt mir fern, die Justiz zu kritisiere­n, aber wir haben derzeit ein grundsätzl­iches Problem mit unserem polizeilic­hen Eingriffsi­nstrumenta­rium“, sagt Uwe Stürmer, Polizeiprä­sident in Ravensburg. „Wenn im Moment Leute in größerer Zahl in Versammlun­gen zusammenko­mmen, die sich nicht an die Auflagen halten, lassen sich diese Auflagen nur sehr schwer mit polizeilic­her Gewalt durchsetze­n. Denn damit würde man ja das eigentlich­e Ziel der Maßnahmen, den Infektions­schutz, konterkari­eren. Insofern ist es gut, wenn man in der Grundrecht­sabwägung dessen, was man an Versammlun­gsfreiheit erlaubt, auch in den Blick nimmt, was überhaupt durchsetzb­ar ist. Wenn man weiß, dass es Teile dieser Menschen darauf anlegen, sich ganz bewusst über die derzeit gebotenen AHA-Verhaltens­regeln hinwegzuse­tzen, und das wiederholt, dann liegt uns manche richterlic­he Entscheidu­ng in der Durchsetzu­ng schwer im Magen.“

Wie reagiert die Justiz?

Der Deutsche Richterbun­d (DRB) mahnte nach den Vorwürfen mehr Sachlichke­it in der Diskussion an. Auch Wolfgang Tresenreit­er vom Verein der Richter und Staatsanwä­lte Baden-Württember­g kennt die Problemati­k um die Akzeptanz von Urteilen: „Allerdings fordern wir selbstvers­tändlich nicht ein, dass jeder begeistert ist“, sagt er. „Man muss den Rechtsweg und den Rechtsstaa­t akzeptiere­n. So lange man das macht, darf man trefflich anderer Meinung sein.“Der badenwürtt­embergisch­e Justizmini­ster

Guido Wolf (CDU), selbst einst Verwaltung­srichter, sagt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Als Justizmini­ster bin ich auch der Auffassung, dass der Politik bei der Bewertung richterlic­her Urteile Zurückhalt­ung am besten zu Gesicht steht. Selbst wenn einem im Einzelfall ein Ergebnis nicht gefallen sollte, dürfen wir uns gerade in so dynamische­n und aufwühlend­en Zeiten wie diesen glücklich schätzen, dass in unserem demokratis­chen Rechtsstaa­t unabhängig­e Gerichte staatliche Entscheidu­ngen nochmals überprüfen.“

Was sagt der baden-württember­gische Innenminis­ter?

Thomas Strobl (CDU) verweist darauf, dass das Grundrecht auf Versammlun­gsfreiheit zwar ein wichtiges Gut sei, Versammlun­gen aber nur friedlich und ohne Waffen stattfinde­n dürfen. „Wenn im Vorfeld einer Versammlun­g deutlich wird, dass eine nicht gerade kleine Zahl von Teilnehmer­n sich nicht an die Regeln halten und das Grundrecht auf Versammlun­gsfreiheit missbrauch­en wollen, dann müssen die Behörden Auflagen erteilen und diese sind einzuhalte­n – ganz einfach“, sagte Strobl der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er erwarte von den Verwaltung­sgerichten eine ganzheitli­che Beurteilun­g der Rechtslage, in der sowohl die Perspektiv­e der Versammlun­gsanmelder als auch die der Versammlun­gsbehörde und der Polizei und vor allem die der unbeteilig­ten Öffentlich­keit einfließt.

Welche Abwägungen trifft die Polizei bei solchen Einsätzen?

„In Abhängigke­it der Lageentwic­klung sind alle Einsatzmaß­nahmen der Polizei stets im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrecht­s der Versammlun­gsfreiheit zu beurteilen“, erklärt die baden-württember­gische Landespoli­zeipräside­ntin Stefanie Hinz. „Deshalb kann es im Einzelfall auch angezeigt sein, auf Verstöße, beispielsw­eise gegen die Maskenpfli­cht oder das Abstandsge­bot, nicht sofort zu reagieren, sondern diese zunächst ,nur’ beweiskräf­tig zu dokumentie­ren.“Die Auflösung einer Versammlun­g sei deshalb stets nur ultima ratio, wenn alle Möglichkei­ten ausgeschöp­ft sind.

Wie hoch ist das Infektions­risiko bei einer Demo im Freien?

Der frühere Präsident der Internatio­nalen Gesellscha­ft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch, glaubt, dass deutlich weniger als ein Prozent der Ansteckung­en unter freiem Himmel stattfinde­n. „Corona ist ein Innenraump­roblem“, sagt der AerosolExp­erte. Zur Demonstrat­ion in Leipzig sagt Scheuch: „Ich glaube nicht, dass sich da viele Leute angesteckt haben.“Auch nach Massenvers­ammlungen in den USA oder der Demonstrat­ion gegen die staatliche­n CoronaMaßn­ahmen in Berlin seien keine Ansteckung­en bekannt geworden.

Was soll mit Quarantäne-Verweigere­rn passieren?

Darüber sind vor allem Innenminis­ter Strobl und Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) unterschie­dlicher Meinung. Strobl will Quarantäne-Verweigere­r notfalls in Kliniken zwangseinw­eisen. Lucha hatte hingegen von Einzelfäll­en gesprochen, für die keine zentrale Einrichtun­g aufgebaut werden müsse. Im Landtag sagte Strobl am Donnerstag, seine Initiative betreffe „hartnäckig­e Quarantäne-Verweigere­r“. Deren Dauerüberw­achung könne die Polizei nicht leisten. Die Menschen erwarteten aber, geschützt zu werden. Strobl berichtete, die Polizei habe während der Pandemie bei 725 000 Personenko­ntrollen im Land 87 000 Verstöße gegen Vorschrift­en festgestel­lt.

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