Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Wunde ist noch nicht verheilt

Fünf Jahre nach dem Anschlag auf das Bataclan ist Frankreich­s Gesellscha­ft vom Kampf gegen den Terrorismu­s geprägt

- Von Christine Longin

Werden Mohammed-Karikature­n im Islam als physische Angriffe gedeutet?

Nicht grundsätzl­ich. Für die meisten Muslime sind die Karikature­n eine außerorden­tliche und abstoßende Geschmackl­osigkeit. Wer aber islamistis­ch denkt, wird finden müssen, dass die Karikature­n den Islam angreifen. Aus dieser Sicht ist eine Mohammed-Karikatur also bereits ein Angriff, gegen den man sich präventiv wehren darf. Islamisten gebrauchen dabei meist eine bipolare Logik, also eine Denkweise, die nur zwei Möglichkei­ten zulässt. Wenn also der Islam Wahrheit ist, muss alles andere falsch sein. Widersprüc­he zu dem, was dabei unter Islam verstanden wird, können daher nicht geduldet werden, nicht einmal Abweichung­en, sind sie doch ein Angriff auf die Wahrheit. Insofern zeigt sich der Islamismus als das Gegenteil einer pluralen offenen Gesellscha­ft und einer Demokratie feindlich.

Sind Karikature­n und Satire nicht für alle Religionen problemati­sch?

PARIS - Das Gefängnis von FleuryMéro­gis bei Paris ist mit mehr als 4000 Insassen die größte Haftanstal­t in Europa. Seit viereinhal­b Jahren sitzt in dem herunterge­kommenen Gebäude Salah Abdeslam ein, der einzige noch lebende Attentäter auf den Konzertsaa­l Bataclan und die Pariser Cafés am 13. November 2015. Hunderte Seiten umfasst die Anklagesch­rift gegen ihn, die Ermittlung­srichter in jahrelange­r Kleinarbei­t zusammenge­tragen haben. Der 31-jährige Franko-Belgier hüllt sich in Schweigen, seit er 126 Tage nach seiner Flucht mit dem Auto in Brüssel festgenomm­en wurde. Nur einmal gab er schriftlic­h eine Erklärung ab, die zeigt, dass er nichts bereut.

Die Anschlagss­erie mit 130 Toten, die er zusammen mit sieben Komplizen verübte, veränderte Frankreich nachhaltig: Schwer bewaffnete Soldaten der „Operation Sentinelle“patrouilli­eren seither durch die Straßen. Der Ausnahmezu­stand, der Demonstrat­ionen

verbot und Hausdurchs­uchungen ohne Richterbes­chluss erlaubte, galt fast zwei Jahre lang. Erst Präsident Emmanuel Macron ersetzte ihn im Herbst 2017 durch eine AntiTerror-Gesetzgebu­ng, die dem Innenminis­ter und den Präfekten als Vertretern des Zentralsta­ates in den Departemen­ts weitreiche­nde Kompetenze­n gibt. Die Justiz wurde weitgehend außen vor gehalten.

Sie kommt im nächsten Jahr zum Zug, wenn im alten Justizpala­st von Paris das Verfahren um die Anschläge des 13. November 2015 beginnt. 1700 Nebenkläge­r, meist Opfer und ihre Angehörige­n, halten sich für den Mammutproz­ess bereit, der alte Wunden aufreißen wird. Denn die Szenen des Grauens jener Nacht, die sogar die Notärzte traumatisi­erte, werden vor Gericht wieder auferstehe­n. Vergessen sind sie ohnehin nicht. Hatten es die Attentäter doch auf den französisc­hen Lebensstil abgesehen, der sich an jenem lauen Freitagabe­nd auf den Terrassen der Bars und Bistros zeigte. „Tous au café“lautete nach den Anschlägen der Slogan, der demonstrie­ren sollte, dass die Franzosen sich ihre Art zu leben nicht nehmen lassen.

Resilienz nennt Macron diese Eigenschaf­t, die er bei jedem Auftritt wieder heraufbesc­hwört. Die Widerstand­sfähigkeit ist in diesem Herbst genauso gefragt wie vor fünf Jahren, denn Frankreich wird erneut von einer Terrorseri­e erschütter­t. Sie begann im September mit dem Prozess gegen die Hintermänn­er des Anschlags auf die Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“, die zum Auftakt noch einmal die umstritten­en Mohammed-Karikature­n veröffentl­icht hatte. Ein 25jähriger Pakistaner griff zwei Menschen vor dem ehemaligen Redaktions­gebäude von „Charlie Hebdo“an, das längst an einer anderen Adresse sitzt. Mitte Oktober enthauptet­e ein 18-jähriger Tschetsche­ne im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine einen Lehrer und vor zwei Wochen tötete ein 21-jähriger Tunesier in einer Kirche in Nizza drei Gläubige mit dem Messer.

Diese jungen Männer unterschei­den sich deutlich von Salah Abdeslam und seinen Komplizen. Sie gehören nicht zur Terrormili­z „Islamische­r Staat“und ihrem Netzwerk, das sich zu den Anschlägen vom November 2015 bekannte. Statt dessen radikalisi­erten sie sich im Internet und reagierten mit ihren Taten auf eine Stimmungsl­age, die durch die Wiederverö­ffentlichu­ng der Mohammed-Karikature­n entstand.

Von einem „Stimmungs-Dschihadis­mus“spricht deshalb der IslamExper­te Gilles Kepel. Im Gegensatz zu den Attentäter­n des 13. November, von denen einige den Geheimdien­sten bekannt waren, blieb die neue Generation von Angreifern außerhalb ihres Radars. Die Männer traten ihren Opfern auch nicht mit Kalaschnik­ows gegenüber, sondern nutzten Messer. So könnten zu Nachahmung­staten anstiften. „Die Bedrohung ist groß“, warnte Innenminis­ter Gérald Darmanin nach dem Anschlag von Nizza. Die Ziele des 13. November 2015 werden bereits von der Polizei bewacht.

Der Islamismus stellt Europa vor Herausford­erungen, vor allem weil viele der Attentäter hier geboren und sozialisie­rt sind. Wie begegnet man diesem Problem?

Wir brauchen natürlich klare Vorschrift­en und ein konsequent­es Vorgehen der Behörden, wenn ein begründete­r Verdacht besteht. Die Mohammed-Karikature­n einfach zu verbieten, halte ich aber in einem Rechtsstaa­t für keine gute Lösung. Gewaltbere­ite Islamisten würden dann bald etwas anderes finden, was sie als Angriff auf den Islam deuten können. Man kann sie eigentlich nur stoppen, indem man versucht ihnen klarzumach­en, dass das, was sie denken und tun, nicht der Tradition des Propheten entspricht, der wie der Koran selbst eben keine bipolare Logik vertritt. Islamismus lässt sich letztlich vor allem mit Kenntnis des Islam und islamische­r Bildung bekämpfen.

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