Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Wunde ist noch nicht verheilt
Fünf Jahre nach dem Anschlag auf das Bataclan ist Frankreichs Gesellschaft vom Kampf gegen den Terrorismus geprägt
Werden Mohammed-Karikaturen im Islam als physische Angriffe gedeutet?
Nicht grundsätzlich. Für die meisten Muslime sind die Karikaturen eine außerordentliche und abstoßende Geschmacklosigkeit. Wer aber islamistisch denkt, wird finden müssen, dass die Karikaturen den Islam angreifen. Aus dieser Sicht ist eine Mohammed-Karikatur also bereits ein Angriff, gegen den man sich präventiv wehren darf. Islamisten gebrauchen dabei meist eine bipolare Logik, also eine Denkweise, die nur zwei Möglichkeiten zulässt. Wenn also der Islam Wahrheit ist, muss alles andere falsch sein. Widersprüche zu dem, was dabei unter Islam verstanden wird, können daher nicht geduldet werden, nicht einmal Abweichungen, sind sie doch ein Angriff auf die Wahrheit. Insofern zeigt sich der Islamismus als das Gegenteil einer pluralen offenen Gesellschaft und einer Demokratie feindlich.
Sind Karikaturen und Satire nicht für alle Religionen problematisch?
PARIS - Das Gefängnis von FleuryMérogis bei Paris ist mit mehr als 4000 Insassen die größte Haftanstalt in Europa. Seit viereinhalb Jahren sitzt in dem heruntergekommenen Gebäude Salah Abdeslam ein, der einzige noch lebende Attentäter auf den Konzertsaal Bataclan und die Pariser Cafés am 13. November 2015. Hunderte Seiten umfasst die Anklageschrift gegen ihn, die Ermittlungsrichter in jahrelanger Kleinarbeit zusammengetragen haben. Der 31-jährige Franko-Belgier hüllt sich in Schweigen, seit er 126 Tage nach seiner Flucht mit dem Auto in Brüssel festgenommen wurde. Nur einmal gab er schriftlich eine Erklärung ab, die zeigt, dass er nichts bereut.
Die Anschlagsserie mit 130 Toten, die er zusammen mit sieben Komplizen verübte, veränderte Frankreich nachhaltig: Schwer bewaffnete Soldaten der „Operation Sentinelle“patrouillieren seither durch die Straßen. Der Ausnahmezustand, der Demonstrationen
verbot und Hausdurchsuchungen ohne Richterbeschluss erlaubte, galt fast zwei Jahre lang. Erst Präsident Emmanuel Macron ersetzte ihn im Herbst 2017 durch eine AntiTerror-Gesetzgebung, die dem Innenminister und den Präfekten als Vertretern des Zentralstaates in den Departements weitreichende Kompetenzen gibt. Die Justiz wurde weitgehend außen vor gehalten.
Sie kommt im nächsten Jahr zum Zug, wenn im alten Justizpalast von Paris das Verfahren um die Anschläge des 13. November 2015 beginnt. 1700 Nebenkläger, meist Opfer und ihre Angehörigen, halten sich für den Mammutprozess bereit, der alte Wunden aufreißen wird. Denn die Szenen des Grauens jener Nacht, die sogar die Notärzte traumatisierte, werden vor Gericht wieder auferstehen. Vergessen sind sie ohnehin nicht. Hatten es die Attentäter doch auf den französischen Lebensstil abgesehen, der sich an jenem lauen Freitagabend auf den Terrassen der Bars und Bistros zeigte. „Tous au café“lautete nach den Anschlägen der Slogan, der demonstrieren sollte, dass die Franzosen sich ihre Art zu leben nicht nehmen lassen.
Resilienz nennt Macron diese Eigenschaft, die er bei jedem Auftritt wieder heraufbeschwört. Die Widerstandsfähigkeit ist in diesem Herbst genauso gefragt wie vor fünf Jahren, denn Frankreich wird erneut von einer Terrorserie erschüttert. Sie begann im September mit dem Prozess gegen die Hintermänner des Anschlags auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“, die zum Auftakt noch einmal die umstrittenen Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte. Ein 25jähriger Pakistaner griff zwei Menschen vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude von „Charlie Hebdo“an, das längst an einer anderen Adresse sitzt. Mitte Oktober enthauptete ein 18-jähriger Tschetschene im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine einen Lehrer und vor zwei Wochen tötete ein 21-jähriger Tunesier in einer Kirche in Nizza drei Gläubige mit dem Messer.
Diese jungen Männer unterscheiden sich deutlich von Salah Abdeslam und seinen Komplizen. Sie gehören nicht zur Terrormiliz „Islamischer Staat“und ihrem Netzwerk, das sich zu den Anschlägen vom November 2015 bekannte. Statt dessen radikalisierten sie sich im Internet und reagierten mit ihren Taten auf eine Stimmungslage, die durch die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen entstand.
Von einem „Stimmungs-Dschihadismus“spricht deshalb der IslamExperte Gilles Kepel. Im Gegensatz zu den Attentätern des 13. November, von denen einige den Geheimdiensten bekannt waren, blieb die neue Generation von Angreifern außerhalb ihres Radars. Die Männer traten ihren Opfern auch nicht mit Kalaschnikows gegenüber, sondern nutzten Messer. So könnten zu Nachahmungstaten anstiften. „Die Bedrohung ist groß“, warnte Innenminister Gérald Darmanin nach dem Anschlag von Nizza. Die Ziele des 13. November 2015 werden bereits von der Polizei bewacht.
Der Islamismus stellt Europa vor Herausforderungen, vor allem weil viele der Attentäter hier geboren und sozialisiert sind. Wie begegnet man diesem Problem?
Wir brauchen natürlich klare Vorschriften und ein konsequentes Vorgehen der Behörden, wenn ein begründeter Verdacht besteht. Die Mohammed-Karikaturen einfach zu verbieten, halte ich aber in einem Rechtsstaat für keine gute Lösung. Gewaltbereite Islamisten würden dann bald etwas anderes finden, was sie als Angriff auf den Islam deuten können. Man kann sie eigentlich nur stoppen, indem man versucht ihnen klarzumachen, dass das, was sie denken und tun, nicht der Tradition des Propheten entspricht, der wie der Koran selbst eben keine bipolare Logik vertritt. Islamismus lässt sich letztlich vor allem mit Kenntnis des Islam und islamischer Bildung bekämpfen.