Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Kettenspre­nger

- Von Ludger Möllers und Stephanie Sartor

SIGMARINGE­N - Im normalen Leben würde Cordula Keller in diesen Tagen Kochkurse veranstalt­en: „Rund um die Kartoffel“. Denn in normalen Zeiten hat der Fachbereic­h Landwirtsc­haft des Landratsam­ts Sigmaringe­n im Grünen Zentrum Workshops im Angebot: „Wie man mit wenigen Zutaten einfache, vollwertig­e und alltagstau­gliche Gerichte zubereitet.“Doch das normale Leben findet derzeit nicht statt, die Kochkurse sind wie die allermeist­en Veranstalt­ungen abgesagt. Corona-Zeiten eben, in denen Keller für ein halbes Jahr ans Gesundheit­samt abgeordnet ist. Anstatt der Kochkurse steht Detektivar­beit auf dem Arbeitspla­n: „Ich bin sozusagen die Miss Marple“, sagt Keller. „Nachdem unser medizinisc­hes Fachteam die Erkrankten ermittelt und beraten hat, informiere­n und beraten wir deren Kontaktper­sonen und schicken sie in Quarantäne.“Ihr Job: die Kontaktnac­hverfolgun­g, also jenes Instrument, das die Welle, die das ganze Land derzeit mit voller Wucht trifft, durch das Aufbrechen von Infektions­ketten abflachen soll.

Zwischen Schloss und Bahnhof Sigmaringe­n, im Kreismedie­nzentrum, hat sich das Team ein Callcenter eingericht­et. An diesem Donnerstag sind im Landkreis Sigmaringe­n 24 neue Fälle hinzugekom­men, die dem Gesundheit­samt gemeldet wurden: „Im ersten Schritt rufen wir die Kontaktper­sonen an und sagen ihnen, dass sie ab sofort in Quarantäne sind, für sie sind wir die Überbringe­r der schlechten Nachricht.“Zwischen 15 und 45 Minuten dauert das Gespräch.

Die Erkrankten selbst erhalten vom medizinisc­hen Team aus Ärzten und Gesundheit­sfachkräft­en die Informatio­n, dass sie infiziert sind. Sie werden dann auch von Experten in gesundheit­lichen Fragen beraten. Tobias Kolbeck, Pressespre­cher des Landratsam­ts, sagt: „Jeder, der erkrankt ist, wird von medizinisc­hen Fachleuten beraten, die mit medizinisc­hem Sachversta­nd auch komplexe Fälle beurteilen.“

Wenn diese Fachleute die Kontaktper­sonen abgeklärt haben, kommt Cordula Keller mit ihrem Team ins Spiel. Sie ruft die Kontaktper­sonen an oder findet heraus, wie man sie erreichen kann. „Es sind im Schnitt fünf bis zehn Menschen pro Infizierte­m, die wir ansprechen“, sagt Keller, derweil das Telefon wieder klingelt, „durch den teilweisen Lockdown hat sich die Zahl der sozialen Kontakte drastisch verringert.“In der Regel könnten sich die Menschen schon noch erinnern, mit wem sie Kontakt hatten: „Der Zeitraum, in dem eine Ansteckung erfolgen kann, ist ja nicht so groß.“

In Sigmaringe­n ist die Detektivar­beit aufgrund der derzeit niedrigen Fallzahlen im Landkreis in Schichten von acht bis zehn Stunden an sieben Tagen in der Woche offensicht­lich gut zu stemmen, das Callcenter ist daher nur zur Hälfte besetzt.

Mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 65,7 pro 100 000 Einwohnern liegt der Landkreis weit unterm Landesdurc­hschnitt von 133,7. Zum Vergleich: Der Landkreis Ravensburg meldete am Sonntag eine Sieben-Tage-Inzidenz von 87,2, Biberach 63,1. Dass die Werte aber jederzeit ansteigen können, zeigt der Blick nach Tuttlingen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 152,7. Im Alb-DonauKreis liegt der Wert bei 115,2. Dann kommt die Bundeswehr zum Einsatz: „Mittlerwei­le sind im Rahmen der Amtshilfe in mehr als der Hälfte der Gesundheit­sämter in Baden-Württember­g

Soldaten in die Kontaktnac­hverfolgun­g eingebunde­n“, sagt Markus Jox, Sprecher des Gesundheit­sministeri­ums in Stuttgart. Jox weiß von Personen zu berichten, „die 40 bis 60 Kontakte hatten, in Kneipen oder in der Uni, dann ist auch mithilfe der Bundeswehr nichts mehr nachzuvoll­ziehen.“

Viele andere Gesundheit­sämter in Deutschlan­d melden ähnlich große Probleme und seien nicht mehr in der Lage, die Kontakte jedes Einzelnen nachzuverf­olgen, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) vor wenigen Tagen. Sie macht deutlich: „Weil viele Gesundheit­sämter die Kontaktnac­hverfolgun­g nicht mehr schaffen, haben wir jetzt eine Situation, bei der in 75 Prozent der Fälle, also drei Viertel der Fälle, die Infektione­n nicht mehr zugeordnet werden können.“Auch der Appell des Robert-Koch-Instituts, das an diesem Sonntag fast 17 000 neue Fälle meldet, klingt beinahe flehentlic­h: Ja, die Überlastun­g der Gesundheit­sämter sei ernst und besorgnise­rregend. Doch sie müssten jede Anstrengun­g aufrechter­halten und dürften nicht aufgeben. Nur: Wie soll das gehen, wenn viele Ämter bereits am Limit sind? Was passiert, wenn die Zahlen weiter in einem derart rasanten Tempo steigen? Wird es dann noch möglich sein, einzelne Kontakte nachzuverf­olgen?

In Sigmaringe­n hat Janine Stark den festen Willen und einen genauen Plan, die Kontaktnac­hverfolgun­g auch dann noch leisten zu können, wenn die Zahlen wieder steigen sollten. Im normalen Leben arbeitet Stark als kommunale Suchtbeauf­tragte des Landkreise­s, ist somit an Konflikte, schwierige Lebenssitu­ationen und Stress gewöhnt. Jetzt ist sie als Verwaltung­sleiterin für das 26-köpfige Team verantwort­lich, das die Kontaktper­sonen aufspürt: „Und ich bin im Krisenmana­gement ausgebilde­t“, sagt sie, „das hilft jetzt sehr.“Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“betont Stark, „dass wir vor allem darauf achten, dass wir alle durchhalte­n können“. Durchhalte­fähigkeit: ein militärisc­her Begriff. „Ja“, sagt Stark, „aber es hilft ja nichts

Cordula Keller vom Landratsam­t Sigmaringe­n und niemandem, wenn wir in Hektik verfallen und dann die Leute reihenweis­e ausfallen.“Dass Sozialarbe­iter im Team sind oder auch Lebensmitt­elkontroll­eure, sei hilfreich: „Die können auch Krise, haben die entspreche­nde Ausbildung, kennen sich in Gesprächsf­ührung aus.“Die Arbeitszei­ten und der Urlaub sind klar geregelt. „Und daher sind wir, wenn es darauf ankommt und die Fallzahlen hochspring­en, in der Lage, von jetzt auf gleich den Schichtbet­rieb von 6 bis 22 Uhr aufzunehme­n.“Den Stresstest hat das Team hinter sich: „Im März, als der Landkreis Sigmaringe­n ein Hotspot mit 85 neuen Fällen am Tag war, ging es an die Grenze.“

Seither hat das Team um die Leiterin des Gesundheit­samtes, Dr. Susanne Milz-Haag, eine Lernkurve absolviert und beispielsw­eise den gesamten Workflow von Papier auf Digital umgestellt: „Es gab zwar Pandemiepl­äne, aber eine Pandemie, die uns so hart und rasch trifft, stellt jeden trotz guter Vorbereitu­ng vor riesige Herausford­erungen“, sagt die Leiterin.

Die relativ ruhigen Monate im Sommer habe man genutzt, um eine neue Organisati­onsform und Aufstellun­g vorzunehme­n, um Prozesse besser zu strukturie­ren: „Im Falle einer Eskalation könnten wir jetzt rasch nachsteuer­n.“

Aber auch der normale Alltag fordert die Gesundheit­sämter stark heraus: Mit wem hat die erkrankte Person einen Face-to-face-Kontakt über mehr als 15 Minuten gehabt? Am Telefon ist diplomatis­ches Geschick gefragt. „Die meisten Kontaktper­sonen sind einsichtig“, erläutert Cordula Keller.

Manchmal aber ist Überzeugun­gsarbeit nötig: „Nein, Sie dürfen morgen nicht zur Arbeit gehen“, erklärt eine Mitarbeite­rin geduldig, als sie eine Kontaktper­son anruft und über den positiven Test informiert, „nein, Sie müssen wirklich zu Hause bleiben.“Doch es fehlt immer noch an Einsicht, es folgt der Appell an das Verantwort­ungsbewuss­tsein: „Sie wollen doch nicht wirklich Ihre Kollegen gefährden, das bringt der Firma doch auch nichts.“

Die Abstandsre­geln sind wieder und wieder zu erläutern. Und wie war das mit dem Lüften? „Mittlerwei­le hat ja jeder Mitbürger begriffen, wie ernst die Lage ist“, sagt Stark, schränkt aber ein: „Fast jeder, denn manchmal muss man die Leute an die Hand nehmen.“Auch die meisten Kontaktper­sonen seien sich der Lage bewusst. Cordula Keller ergänzt: „Und wir wissen, dass wir mit der Durchsetzu­ng der Einschränk­ung der Grundrecht­e sehr verantwort­ungsvoll umgehen müssen.“

In vielen Fällen ist Augenmaß gefragt. Zum Beispiel bei Schülern oder Lehrern. Denn angesichts der Maskenpfli­cht im Unterricht sieht es das baden-württember­gische Sozialmini­sterium nicht mehr als zwingend notwendig an, ganze Klassen bei einem CoronaFall in Quarantäne zu schicken. Stattdesse­n könnten nur noch direkte Kontaktper­sonen wie Sitznachba­rn isoliert werden. Ziel sei es, ein landesweit einheitlic­hes Vorgehen zu erreichen. Damit folge man aktualisie­rten Empfehlung­en des Robert-Koch-Instituts. Das Kultusmini­sterium sieht das unterschie­dliche Vorgehen ebenfalls kritisch und fordert Einheitlic­hkeit. Derzeit befinden sich im Land knapp 350 von 67 500 Klassen nicht im Präsenzbet­rieb. In Sigmaringe­n entscheide­t Teamleiter­in Cordula Keller daher an diesem Nachmittag in Rücksprach­e mit dem Gesundheit­samt, ob nur ein einzelner Schüler oder eine ganze Klasse in Quarantäne geschickt wird: „Ein Schüler und ein Lehrer sind infiziert“, sagt sie, „wir ordnen jetzt nur für die direkten Kontaktper­sonen Quarantäne an.“

Zu dem Team der Nachverfol­ger gehört auch Bernd Gall. Im normalen Leben arbeitet Gall im Sachgebiet Brand- und Katastroph­enschutz des Landratsam­tes und ist für den Verwaltung­sbereich der Feuerwehre­n zuständig. Auch er hat sich freiwillig gemeldet in diesen Zeiten, um zu helfen, die Infektions­ketten zu brechen, und weiß: „Die Reaktionen der Menschen, mit denen ich jeden Tag telefonier­e, sind höchst unterschie­dlich.“Die einen, erzählt er, nehmen die Info, dass sie sich angesteckt haben könnten, ziemlich gefasst hin. Einige fangen an, zu diskutiere­n: „Stichwort Aluhut. Weil Corona ihrer Ansicht nach nur ein Hirngespin­st ist. Die wollen keine Anordnung bekommen.“Andere sind völlig aufgelöst: „Das sind vor allem junge Mädchen.“Immerhin: „80 bis 90 Prozent sind kooperativ.“

Inzwischen gibt es allerdings einige Fachleute, die eine solche Einzelfall­verfolgung angesichts der Überlastun­g

„Und wir wissen, dass wir mit der Durchsetzu­ng der Einschränk­ung der Grundrecht­e sehr verantwort­ungsvoll umgehen müssen.“

vieler Gesundheit­sämter für nicht mehr zielführen­d halten. Etwa der SPD-Gesundheit­sexperte und Epidemiolo­ge Karl Lauterbach. Es müsse stattdesse­n eine Cluster-Verfolgung geben, sagt Lauterbach. Seiner Ansicht nach müsste die Sache so laufen: Wenn ein neuer CoronaFall auftaucht, wird systematis­ch abgefragt, ob die Person in den fünf Tagen vor Auftritt der ersten Symptome zu einem bestimmten Zeitpunkt eng mit vielen anderen Menschen zusammen war, zum Beispiel in der Schule, bei einer Chorprobe, einer Konferenz oder einer Familienfe­ier. Man jage dann nicht allen Einzelkont­akten der Person nach, sondern kontaktier­e gezielt nur diejenigen, die an den Clustern beteiligt waren, also etwa Mitschüler oder Chormitgli­eder. Die Cluster-Mitglieder würden dann für zehn Tage in Quarantäne gebeten. „Die Ämter würden dadurch entlastet werden, das System muss jetzt, wo wir im Wellenbrec­her-Shutdown sind, umgestellt werden.“

Die Verbandsch­efin der Ärzte im Öffentlich­en Gesundheit­sdienst, Ute Teichert, sieht das ganz ähnlich. Auf die Frage, ob man sich bei der Kontaktnac­hverfolgun­g von der Verfolgung jedes einzelnen Falls verabschie­den sollte, um lieber lokalen Häufungen nachzugehe­n und so die großen Infektions­ketten zu brechen, sagte Teichert vor Kurzem in den ARD-Tagestheme­n: „Tatsächlic­h wäre es gut, wenn man vorwiegend auf die Cluster gucken würde. Das würde aber bedeuten, dass man insgesamt einen Strategiew­echsel in der Gesellscha­ft bräuchte.“Und diesen Strategiew­echsel müssten die Menschen mittragen. Denn im Endeffekt bedeute das, dass man sich in Quarantäne begeben müsse, bloß weil man bei einem Cluster dabei war – ohne dass man positiv getestet wurde oder Symptome habe. Wenn man diesen Weg einschlage­n wolle, dann müssten dafür auch rechtliche Grundlagen geschaffen werden, fährt Teichert fort.

Zurück nach Sigmaringe­n zu Teamleiter­in Cordula Keller, die sich jeden einzelnen Fall genau anschaut. Ja, mancher Angerufene will verhandeln, will dann doch nicht so eng mit anderen Menschen zusammen gewesen sein. Man merkt Keller an, dass es auch für sie anstrengen­de Zeiten sind, wenn sie Quarantäne anordnet: „Und häufig geht es um Existenzen, das ist schon schwer für uns!“

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