Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die Kettensprenger
SIGMARINGEN - Im normalen Leben würde Cordula Keller in diesen Tagen Kochkurse veranstalten: „Rund um die Kartoffel“. Denn in normalen Zeiten hat der Fachbereich Landwirtschaft des Landratsamts Sigmaringen im Grünen Zentrum Workshops im Angebot: „Wie man mit wenigen Zutaten einfache, vollwertige und alltagstaugliche Gerichte zubereitet.“Doch das normale Leben findet derzeit nicht statt, die Kochkurse sind wie die allermeisten Veranstaltungen abgesagt. Corona-Zeiten eben, in denen Keller für ein halbes Jahr ans Gesundheitsamt abgeordnet ist. Anstatt der Kochkurse steht Detektivarbeit auf dem Arbeitsplan: „Ich bin sozusagen die Miss Marple“, sagt Keller. „Nachdem unser medizinisches Fachteam die Erkrankten ermittelt und beraten hat, informieren und beraten wir deren Kontaktpersonen und schicken sie in Quarantäne.“Ihr Job: die Kontaktnachverfolgung, also jenes Instrument, das die Welle, die das ganze Land derzeit mit voller Wucht trifft, durch das Aufbrechen von Infektionsketten abflachen soll.
Zwischen Schloss und Bahnhof Sigmaringen, im Kreismedienzentrum, hat sich das Team ein Callcenter eingerichtet. An diesem Donnerstag sind im Landkreis Sigmaringen 24 neue Fälle hinzugekommen, die dem Gesundheitsamt gemeldet wurden: „Im ersten Schritt rufen wir die Kontaktpersonen an und sagen ihnen, dass sie ab sofort in Quarantäne sind, für sie sind wir die Überbringer der schlechten Nachricht.“Zwischen 15 und 45 Minuten dauert das Gespräch.
Die Erkrankten selbst erhalten vom medizinischen Team aus Ärzten und Gesundheitsfachkräften die Information, dass sie infiziert sind. Sie werden dann auch von Experten in gesundheitlichen Fragen beraten. Tobias Kolbeck, Pressesprecher des Landratsamts, sagt: „Jeder, der erkrankt ist, wird von medizinischen Fachleuten beraten, die mit medizinischem Sachverstand auch komplexe Fälle beurteilen.“
Wenn diese Fachleute die Kontaktpersonen abgeklärt haben, kommt Cordula Keller mit ihrem Team ins Spiel. Sie ruft die Kontaktpersonen an oder findet heraus, wie man sie erreichen kann. „Es sind im Schnitt fünf bis zehn Menschen pro Infiziertem, die wir ansprechen“, sagt Keller, derweil das Telefon wieder klingelt, „durch den teilweisen Lockdown hat sich die Zahl der sozialen Kontakte drastisch verringert.“In der Regel könnten sich die Menschen schon noch erinnern, mit wem sie Kontakt hatten: „Der Zeitraum, in dem eine Ansteckung erfolgen kann, ist ja nicht so groß.“
In Sigmaringen ist die Detektivarbeit aufgrund der derzeit niedrigen Fallzahlen im Landkreis in Schichten von acht bis zehn Stunden an sieben Tagen in der Woche offensichtlich gut zu stemmen, das Callcenter ist daher nur zur Hälfte besetzt.
Mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 65,7 pro 100 000 Einwohnern liegt der Landkreis weit unterm Landesdurchschnitt von 133,7. Zum Vergleich: Der Landkreis Ravensburg meldete am Sonntag eine Sieben-Tage-Inzidenz von 87,2, Biberach 63,1. Dass die Werte aber jederzeit ansteigen können, zeigt der Blick nach Tuttlingen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 152,7. Im Alb-DonauKreis liegt der Wert bei 115,2. Dann kommt die Bundeswehr zum Einsatz: „Mittlerweile sind im Rahmen der Amtshilfe in mehr als der Hälfte der Gesundheitsämter in Baden-Württemberg
Soldaten in die Kontaktnachverfolgung eingebunden“, sagt Markus Jox, Sprecher des Gesundheitsministeriums in Stuttgart. Jox weiß von Personen zu berichten, „die 40 bis 60 Kontakte hatten, in Kneipen oder in der Uni, dann ist auch mithilfe der Bundeswehr nichts mehr nachzuvollziehen.“
Viele andere Gesundheitsämter in Deutschland melden ähnlich große Probleme und seien nicht mehr in der Lage, die Kontakte jedes Einzelnen nachzuverfolgen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor wenigen Tagen. Sie macht deutlich: „Weil viele Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung nicht mehr schaffen, haben wir jetzt eine Situation, bei der in 75 Prozent der Fälle, also drei Viertel der Fälle, die Infektionen nicht mehr zugeordnet werden können.“Auch der Appell des Robert-Koch-Instituts, das an diesem Sonntag fast 17 000 neue Fälle meldet, klingt beinahe flehentlich: Ja, die Überlastung der Gesundheitsämter sei ernst und besorgniserregend. Doch sie müssten jede Anstrengung aufrechterhalten und dürften nicht aufgeben. Nur: Wie soll das gehen, wenn viele Ämter bereits am Limit sind? Was passiert, wenn die Zahlen weiter in einem derart rasanten Tempo steigen? Wird es dann noch möglich sein, einzelne Kontakte nachzuverfolgen?
In Sigmaringen hat Janine Stark den festen Willen und einen genauen Plan, die Kontaktnachverfolgung auch dann noch leisten zu können, wenn die Zahlen wieder steigen sollten. Im normalen Leben arbeitet Stark als kommunale Suchtbeauftragte des Landkreises, ist somit an Konflikte, schwierige Lebenssituationen und Stress gewöhnt. Jetzt ist sie als Verwaltungsleiterin für das 26-köpfige Team verantwortlich, das die Kontaktpersonen aufspürt: „Und ich bin im Krisenmanagement ausgebildet“, sagt sie, „das hilft jetzt sehr.“Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“betont Stark, „dass wir vor allem darauf achten, dass wir alle durchhalten können“. Durchhaltefähigkeit: ein militärischer Begriff. „Ja“, sagt Stark, „aber es hilft ja nichts
Cordula Keller vom Landratsamt Sigmaringen und niemandem, wenn wir in Hektik verfallen und dann die Leute reihenweise ausfallen.“Dass Sozialarbeiter im Team sind oder auch Lebensmittelkontrolleure, sei hilfreich: „Die können auch Krise, haben die entsprechende Ausbildung, kennen sich in Gesprächsführung aus.“Die Arbeitszeiten und der Urlaub sind klar geregelt. „Und daher sind wir, wenn es darauf ankommt und die Fallzahlen hochspringen, in der Lage, von jetzt auf gleich den Schichtbetrieb von 6 bis 22 Uhr aufzunehmen.“Den Stresstest hat das Team hinter sich: „Im März, als der Landkreis Sigmaringen ein Hotspot mit 85 neuen Fällen am Tag war, ging es an die Grenze.“
Seither hat das Team um die Leiterin des Gesundheitsamtes, Dr. Susanne Milz-Haag, eine Lernkurve absolviert und beispielsweise den gesamten Workflow von Papier auf Digital umgestellt: „Es gab zwar Pandemiepläne, aber eine Pandemie, die uns so hart und rasch trifft, stellt jeden trotz guter Vorbereitung vor riesige Herausforderungen“, sagt die Leiterin.
Die relativ ruhigen Monate im Sommer habe man genutzt, um eine neue Organisationsform und Aufstellung vorzunehmen, um Prozesse besser zu strukturieren: „Im Falle einer Eskalation könnten wir jetzt rasch nachsteuern.“
Aber auch der normale Alltag fordert die Gesundheitsämter stark heraus: Mit wem hat die erkrankte Person einen Face-to-face-Kontakt über mehr als 15 Minuten gehabt? Am Telefon ist diplomatisches Geschick gefragt. „Die meisten Kontaktpersonen sind einsichtig“, erläutert Cordula Keller.
Manchmal aber ist Überzeugungsarbeit nötig: „Nein, Sie dürfen morgen nicht zur Arbeit gehen“, erklärt eine Mitarbeiterin geduldig, als sie eine Kontaktperson anruft und über den positiven Test informiert, „nein, Sie müssen wirklich zu Hause bleiben.“Doch es fehlt immer noch an Einsicht, es folgt der Appell an das Verantwortungsbewusstsein: „Sie wollen doch nicht wirklich Ihre Kollegen gefährden, das bringt der Firma doch auch nichts.“
Die Abstandsregeln sind wieder und wieder zu erläutern. Und wie war das mit dem Lüften? „Mittlerweile hat ja jeder Mitbürger begriffen, wie ernst die Lage ist“, sagt Stark, schränkt aber ein: „Fast jeder, denn manchmal muss man die Leute an die Hand nehmen.“Auch die meisten Kontaktpersonen seien sich der Lage bewusst. Cordula Keller ergänzt: „Und wir wissen, dass wir mit der Durchsetzung der Einschränkung der Grundrechte sehr verantwortungsvoll umgehen müssen.“
In vielen Fällen ist Augenmaß gefragt. Zum Beispiel bei Schülern oder Lehrern. Denn angesichts der Maskenpflicht im Unterricht sieht es das baden-württembergische Sozialministerium nicht mehr als zwingend notwendig an, ganze Klassen bei einem CoronaFall in Quarantäne zu schicken. Stattdessen könnten nur noch direkte Kontaktpersonen wie Sitznachbarn isoliert werden. Ziel sei es, ein landesweit einheitliches Vorgehen zu erreichen. Damit folge man aktualisierten Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts. Das Kultusministerium sieht das unterschiedliche Vorgehen ebenfalls kritisch und fordert Einheitlichkeit. Derzeit befinden sich im Land knapp 350 von 67 500 Klassen nicht im Präsenzbetrieb. In Sigmaringen entscheidet Teamleiterin Cordula Keller daher an diesem Nachmittag in Rücksprache mit dem Gesundheitsamt, ob nur ein einzelner Schüler oder eine ganze Klasse in Quarantäne geschickt wird: „Ein Schüler und ein Lehrer sind infiziert“, sagt sie, „wir ordnen jetzt nur für die direkten Kontaktpersonen Quarantäne an.“
Zu dem Team der Nachverfolger gehört auch Bernd Gall. Im normalen Leben arbeitet Gall im Sachgebiet Brand- und Katastrophenschutz des Landratsamtes und ist für den Verwaltungsbereich der Feuerwehren zuständig. Auch er hat sich freiwillig gemeldet in diesen Zeiten, um zu helfen, die Infektionsketten zu brechen, und weiß: „Die Reaktionen der Menschen, mit denen ich jeden Tag telefoniere, sind höchst unterschiedlich.“Die einen, erzählt er, nehmen die Info, dass sie sich angesteckt haben könnten, ziemlich gefasst hin. Einige fangen an, zu diskutieren: „Stichwort Aluhut. Weil Corona ihrer Ansicht nach nur ein Hirngespinst ist. Die wollen keine Anordnung bekommen.“Andere sind völlig aufgelöst: „Das sind vor allem junge Mädchen.“Immerhin: „80 bis 90 Prozent sind kooperativ.“
Inzwischen gibt es allerdings einige Fachleute, die eine solche Einzelfallverfolgung angesichts der Überlastung
„Und wir wissen, dass wir mit der Durchsetzung der Einschränkung der Grundrechte sehr verantwortungsvoll umgehen müssen.“
vieler Gesundheitsämter für nicht mehr zielführend halten. Etwa der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach. Es müsse stattdessen eine Cluster-Verfolgung geben, sagt Lauterbach. Seiner Ansicht nach müsste die Sache so laufen: Wenn ein neuer CoronaFall auftaucht, wird systematisch abgefragt, ob die Person in den fünf Tagen vor Auftritt der ersten Symptome zu einem bestimmten Zeitpunkt eng mit vielen anderen Menschen zusammen war, zum Beispiel in der Schule, bei einer Chorprobe, einer Konferenz oder einer Familienfeier. Man jage dann nicht allen Einzelkontakten der Person nach, sondern kontaktiere gezielt nur diejenigen, die an den Clustern beteiligt waren, also etwa Mitschüler oder Chormitglieder. Die Cluster-Mitglieder würden dann für zehn Tage in Quarantäne gebeten. „Die Ämter würden dadurch entlastet werden, das System muss jetzt, wo wir im Wellenbrecher-Shutdown sind, umgestellt werden.“
Die Verbandschefin der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, Ute Teichert, sieht das ganz ähnlich. Auf die Frage, ob man sich bei der Kontaktnachverfolgung von der Verfolgung jedes einzelnen Falls verabschieden sollte, um lieber lokalen Häufungen nachzugehen und so die großen Infektionsketten zu brechen, sagte Teichert vor Kurzem in den ARD-Tagesthemen: „Tatsächlich wäre es gut, wenn man vorwiegend auf die Cluster gucken würde. Das würde aber bedeuten, dass man insgesamt einen Strategiewechsel in der Gesellschaft bräuchte.“Und diesen Strategiewechsel müssten die Menschen mittragen. Denn im Endeffekt bedeute das, dass man sich in Quarantäne begeben müsse, bloß weil man bei einem Cluster dabei war – ohne dass man positiv getestet wurde oder Symptome habe. Wenn man diesen Weg einschlagen wolle, dann müssten dafür auch rechtliche Grundlagen geschaffen werden, fährt Teichert fort.
Zurück nach Sigmaringen zu Teamleiterin Cordula Keller, die sich jeden einzelnen Fall genau anschaut. Ja, mancher Angerufene will verhandeln, will dann doch nicht so eng mit anderen Menschen zusammen gewesen sein. Man merkt Keller an, dass es auch für sie anstrengende Zeiten sind, wenn sie Quarantäne anordnet: „Und häufig geht es um Existenzen, das ist schon schwer für uns!“