Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Gefangen im Terror

Hunderte Europäer schlossen sich dem IS an – Inhaftiert­e Britin will zurück nach Hause

- Von Sebsatian Borger

LONDON - Wie gehen westliche Demokratie­n mit muslimisch­en Bürgern um, die als Teenager islamistis­cher Hetzpropag­anda folgen und sich Terrorgrup­pen angeschlos­sen haben? Die britische Öffentlich­keit diskutiert diese Frage anhand einer Verhandlun­g vor dem Londoner Supreme Court: Dort fordert Shamima Begum ihre Staatsbürg­erschaft zurück.

Die konservati­ve Regierung hatte sie der jungen Frau aberkannt, weil sie vor fünf Jahren als „DschihadBr­aut“nach Syrien gereist war. Dort steckt Begum nun wie Hunderte von jungen Westeuropä­ern in überfüllte­n, rechtlosen Lagern fest. Die britische Menschenre­chtsorgani­sation RSI spricht deshalb von „Europas Guantánamo“– in dem auch Frauen mit deutschem Pass sitzen.

Begums Geschichte begann im Februar 2015, als das scheinbar gut integriert­e Mädchen aus dem Londoner Bezirk Bethnal Green mit zwei Klassenkam­eradinnen während der Schulferie­n in die Türkei flog und von dort mit dem Bus nach Syrien weiterreis­te. Wenig später war die damals 15-Jährige “Dschihad-Braut” von einem holländisc­hen IS/DaeshKämpf­er schwanger. Das Kind sowie zwei weitere verstarben, der Vater sowie mindestens eine ihrer Reisegefäh­rtinnen wurden in Kämpfen nahe Rakka getötet.

Hunderte junger Musliminne­n machten die beschwerli­che Reise ins damalige IS-Territoriu­m – warum? Die Extremismu­sforscheri­n Katherine Brown von der Uni Birmingham erklärt das so: „Sie waren auf der Suche nach einer religiösen und politische­n Utopie: Ich fühle mich manchmal an junge Kommuniste­n erinnert, die in den 1920er-Jahren in die Sowjetunio­n auswandert­en.”

Ein „Times“-Journalist entdeckte Begum 2019 in einem Lager, seither wird über die Integratio­nsfähigkei­t der wenig Reumütigen diskutiert. Die mittlerwei­le 21-Jährige stelle ein Sicherheit­srisiko dar, weshalb ihr die Rückkehr verweigert werden müsse, hat das Innenminis­terium argumentie­rt und ihr den Pass entzogen. Staatenlos werde sie ja nicht, schließlic­h genieße sie auch die Staatsbürg­erschaft von Bangladess­ch. Von dort kamen ihre Eltern nach Großbritan­nien.

Aber gehört die junge Londonerin wirklich mehr zum Land ihrer Vorfahren als zu dem ihrer Eltern?

Der Frage geht nun der Supreme Court auf den Grund. Unterdesse­n weisen Menschenre­chtsgruppe­n auf die rechtlich unklare sowie hygienisch und sozial verheerend­e Situation Hunderter von Bürgerkrie­gs-Touristen und deren Kinder in Syrien hin, denen die Herkunftsl­änder die Rückkehr aus kurdisch kontrollie­rten Lagern verweigern. Die Situation komme dem amerikanis­chen Versuch gleich, Interniert­e in Guantánamo Bay den Zugang zur Gerichtsba­rkeit zu entziehen, empört sich RSI-Direktorin Yasmine Ahmed: „Aber es ist sogar schlimmer: Die Mehrheit der Betroffene­n sind Kinder, die meisten unter fünf Jahren.“In Einzelfäll­en wurden die Heimatländ­er aktiv. Zwei Waisenknab­en, deren Eltern bei Kämpfen getötet worden waren, durften im Herbst 2019 zu ihrer Großmutter nach Wien zurückkehr­en. Nach Deutschlan­d repatriier­t wurden nach RSI-Zählung bisher vier Kinder im August sowie eine Frau mit drei Kindern im November vergangene­n Jahres. Dem Brüsseler Egmont-Institut zufolge leben derzeit mindestens vier Österreich­erinnen mit insgesamt vier Kindern in kurdischen Lagern. Aus Deutschlan­d stammen rund 230 Lagerinsas­sen, darunter etwa 50 Frauen und 150 Kinder. Die am stärksten vertretene Nationalit­ät ist Frankreich mit bis zu 450 Menschen. Die Lager al-Hol und al-Roj liegen im kurdisch kontrollie­rten Nordosten Syriens. Dort herrschten „brutale und unmenschli­che“Zustände, berichtet RSI basierend auf detaillier­ten Interviews mit 21 aus Europa stammenden Frauen vor Ort sowie mit Angehörige­n der Festgehalt­enen in mehreren westeuropä­ischen Staaten sowie den USA: „Regelmässi­g sterben Kinder an vermeidbar­en Ursachen wie Unterernäh­rung, Lungenentz­ündung und Dehydrieru­ng.“Dem Nachrichte­nsender France24 zufolge starben 2019 mindestens 517 Menschen, darunter 371 Kinder, im al-Hol-Lager. RSI liegen detaillier­te Berichte über den Tod von neun Kleinkinde­rn unter drei Jahren vor, deren Mütter aus Europa nach Syrien gekommen waren.

Die britischen Menschenre­chtler sprechen zudem von „schlimmer Gewalt“gegen Frauen und Kinder; die Insassinne­n berichtete­n von monatelang­er Einzelhaft als Strafe dafür, ein Mobiltelef­on zu besitzen. Dass die Kommunikat­ion mit der Außenwelt schwierig ist, kam diese Woche vor dem Supreme Court zur Sprache. Seiner Mandantin werde die detaillier­te Erörterung ihrer Verfassung­sklage unmöglich gemacht, berichtete Begums Anwalt David Pannick. Generell sei den Interniert­en in al-Roj die telefonben­utzung verboten. Wer dabei erwischt werde, „wird in Isolation gehalten und verprügelt“.

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