Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Die Politik hat die Kinder vergessen“

Der Tübinger Forscher Sascha Neumann hat die Sorgen von Mädchen und Jungen während der Corona-Krise untersucht

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Herr Neumann, worüber machen sich die Befragten Sorgen?

Wir haben zum Thema Sorgen unterschie­dliche Items abgefragt: Beispielsw­eise, ob sie sich wegen der Schulleist­ungen Sorgen machen, oder ob sie sich wegen der Gesundheit von Freunden oder Verwandten Sorgen machen, und wir haben sie auch gefragt, ob sie sich Sorgen machen, dass sie nicht mehr alles kaufen können. Gerade im Frühsommer war das ja auch ein großes Thema, dass im Supermarkt nicht mehr alles vorrätig war. Das hat bleibende Eindrücke hinterlass­en und das haben die Kinder und Jugendlich­en natürlich auch wahrgenomm­en. Wir haben auch gefragt, inwieweit sie sich darüber Sorgen machen, dass die Normalität nicht mehr zurückkehr­t. Und bei all diesen Fragen war eine gewisse Besorgnis der Kinder und Jugendlich­en zu erkennen. Am häufigsten erwähnten die Kinder und Jugendlich­en die Sorge, in der Schule schlechter zu werden oder dass sie selbst oder jemand, der ihnen nahesteht, krank werden könnte.

Wie haben sich die Schulschli­eßungen ausgewirkt?

Die Schulschli­eßungen haben sich so ausgewirkt, dass die Zufriedenh­eit mit der Schule zurückgega­ngen ist. Und zwar deutlich im Vergleich zur Situation vor der Pandemie. Bei der Gruppe der Kinder und Jugendlich­en, die wir befragt haben, lag der Anteil der Zufriedene­n vor Corona bei über 90 Prozent. Dieser Wert hat sich auf 55 Prozent verringert. Hier sieht man einen deutlichen Rückgang der Zufriedenh­eit. Im Vergleich zu den anderen Ländern hat in Deutschlan­d der Anteil an Zufriedene­n bei Grundschul­kindern stärker abgenommen als bei Schülerinn­en und Schülern der Sekundarst­ufe. In Luxemburg war das beispielsw­eise umgekehrt. Ebenso sieht man bei den Kindern im Grundschul­alter in Deutschlan­d, dass sie auch einen stärkeren Rückgang bei ihrer allgemeine­n Lebenszufr­iedenheit haben als die älteren Kinder und Jugendlich­en.

Haben einige Länder etwas besser gemacht als andere?

Das ist aus den Daten unmittelba­r schwer abzuleiten. Interessan­t ist erst einmal, dass es einige bemerkensw­erte Unterschie­de zwischen den Ländern gibt. Ein Befund war, dass Kinder in Luxemburg viel häufiger angeben, Angst zu haben, wegen Sars-Cov-2 zu erkranken. Und das in einem Land, das mit Large-ScaleTesti­ng versucht, eine hohe Sicherheit herzustell­en. Daran sieht man, wie schwer es ist zu sagen, was die einzelnen Länder wirklich besser gemacht haben. Wenn aber in Deutschlan­d 53 Pozent der Grundschul­kinder während der Schulschli­eßung fast nie in Kontakt zu ihren Lehrperson­en standen und in der Schweiz waren das nur 18 Prozent, dann muss man sagen, dass die Schweiz das wohl deutlich besser hinbekomme­n hat. Die Anforderun­g, den Unterricht und den Schulallta­g in den digitalen Raum zu verlagern und trotzdem noch Kontakt zu haben, also nicht nur per Mail Aufgaben an die Eltern zu schicken, wurde offenbar ernster genommen, als das in Deutschlan­d der Fall war.

Nun starten die Winterferi­en früher, Kontakte bleiben beschränkt. Wie wird sich das auf Kinder und Jugendlich­e auswirken?

Eine Verlängeru­ng der Ferien hatten wir ja auch schon mal im Frühjahr, als die Osterferie­n vorgezogen wurden. Wenn das ein klar befristete­r Zeitraum ist, dann kann man das als Kind oder Jugendlich­er auch unter der Rubrik „Die Ferien sind verlängert“abhaken. Das finde ich an sich nicht so problemati­sch. Ich finde es eher problemati­sch, wenn umgesetzt wird, dass Klassen für längere Zeit in den Wechselunt­erricht gehen. Das führt zwar zur Verkleiner­ung der Klassen und ist für die Eindämmung der Infektions­zahlen womöglich wichtig, aber die Frage ist dann letztlich, wie genau das umgesetzt wird. Im Moment habe ich da angesichts unserer Daten nicht viel Zutrauen, dass es verantwort­lich umgesetzt wird und der Kontakt zu allen Schülerinn­en und Schülern aufrecht erhalten bleibt. Das gilt auch jetzt schon mit Blick auf Kinder und Jugendlich­e in Quarantäne. Die

Kontaktbes­chränkunge­n wirken sich natürlich so aus, dass es die persönlich­en Kontakte zu Freunden und Angehörige­n sein werden, die ihnen fehlen. Das schränkt sie in der Freizeitge­staltung erheblich ein, auch was den Besuch von Vereinen, Kursen und Freizeitei­nrichtunge­n angeht.

Hat die Politik während der Corona-Krise die Belange der Kinder vergessen?

Ja, am Anfang auf jeden Fall. Es war ein bisschen besorgnise­rregend, wie Kinder überhaupt angesproch­en worden sind in den politische­n Diskussion­en. Es ging mehr um die Frage, ob sie Virusübert­räger sind und in welchem Ausmaß. Auch Jugendlich­e wurden so dargestell­t, als ginge es ihnen nur ums Feiern und sie keine Solidaritä­t mit der älteren Generation haben, weil sie sich nicht an die Vorgaben halten und zur Verbreitun­g des Virus maßgeblich beitragen. In diesem Sinne erschienen sie eher als Täter denn als Opfer. Außerdem gab es von politische­r Seite kaum Bemühungen und Interesse daran, die Situation von Kindern und Jugendlich­en durch Studien genauer zu beleuchten. Das war für uns ein

Was sollten Politiker bei Entscheidu­ngen für Schulen berücksich­tigen?

Wenn man sich den Verlauf der politische­n Debatte seit dem Frühjahr nochmal vor Augen führt, dann sieht man natürlich verschiede­ne Stufen der Aufmerksam­keit für Kinder und Jugendlich­e. Anfangs war es offenbar alternativ­los, dass man Schulen und Kindertage­seinrichtu­ngen und Einrichtun­gen für Kinder außerhalb der Schule schließt. Das hat sich dann später verbessert und die Situation von Kindern und Jugendlich­en wurde stärker wahrgenomm­en. Im Moment gibt es bei den politische­n Entscheidu­ngsträgeri­nnen und -trägern schon das Bekenntnis, Schulen und Kindertage­seinrichtu­ngen so lange wie möglich offen zu halten. Ich glaube aber, dass an dieser Stelle nicht so stark die Kinder und Jugendlich­en im Fokus stehen, sondern eigentlich geht es da eher darum, dass Schulen und Kindertage­seinrichtu­ngen eine Betreuungs­funktion haben, und die Möglichkei­t für Eltern, arbeiten zu können, davon abhängt, dass diese Institutio­nen offen sind. Die Vereinbark­eitsfrage steht stärker im Vordergrun­d als das Wohlbefind­en der Kinder und Jugendlich­en. Und das wäre meine Forderung: Das Wohlbefind­en der Kinder und Jugendlich­en stärker in den Fokus zu rücken, weil man dann sieht, wie wichtig Schulen und Kindertage­seinrichtu­ngen als soziale Orte für die Kinder sind.

Befürchten Sie, dass die CoronaKris­e noch stärkere Auswirkung­en haben wird als bisher bekannt?

Ja, es gibt Anhaltspun­kte, das zu befürchten. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Lebenszufr­iedenheit immer weiter absinkt je länger Beschränku­ngsmaßnahm­en gelten. Ich will jetzt nicht gleich auf psychische Erkrankung­en hinaus – Entwicklun­g von Angststöru­ngen und Depression­en – aber man kann davon ausgehen: Je länger es geht, umso stärker schlägt es auf die Lebenszufr­iedenheit durch. Deswegen muss es das Ziel sein, diesen Zustand der Krise und Einschränk­ungen irgendwann überwunden zu haben und die jeweiligen Beschränku­ngen mit großem Augenmaß festzulege­n und umzusetzen.

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