Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Geschäfte offen, Stimmung frostig
Corona-Beschlüsse verschärfen vor allem im Handel die Probleme – Ruf nach Strategie ohne Schließungen
FRANKFURT/RAVENSBURG - Warteschlangen vor den Supermärkten, leere Modehäuser in den Innenstädten: Der Handel warnt vor dramatischen Folgen der von Bund und Ländern beschlossenen Verschärfung und Verlängerung des Teil-Lockdowns in Deutschland. Durften Einzelhändler bislang weitgehend ohne Einschränkungen öffnen, zielen die neuen Maßnahmen vor allem auf sie ab: In Geschäften mit mehr als 800 Quadratmetern – also auch nahezu alle Supermärkte – dürfen fortan weniger Kunden gleichzeitig einkaufen als bisher.
Wie schon im Frühjahr werden die Betreiber also mit Türstehern und Abstandsmarkierungen dafür sorgen müssen, dass diese Regeln eingehalten werden. „Der große Verlierer sind viele Innenstadt-Händler, denen unter den Corona-Bedingungen die Kunden und die Umsätze wegbrechen“, klagte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Stefan Genth, am Donnerstag. Stattdessen werde mehr im Internet eingekauft werden.
Deutschlands größter Lebensmittelhändler Edeka hat scharfe Kritik an der Verschärfung der CoronaAuflagen für den Einzelhandel geübt. „Wir halten die Begrenzung der Kundenzahl ab 800 Quadratmetern Verkaufsfläche für kontraproduktiv und nicht nachvollziehbar“, sage EdekaChef Markus Mosa am Donnerstag. Die hohe Nachfrage gerade im Weihnachtsgeschäft lasse sich so nicht bedienen. Der Hinweis der Politik, dass die Verbraucher ihre Einkäufe auf die Wochentage verteilen sollten, sei auch nicht hilfreich, denn das täten die Kunden bereits seit dem ersten Lockdown, meinte Mosa. „Auch bei einer weiteren Verteilung der Kundenströme könnten wir die hohe Nachfrage gerade im Weihnachtsgeschäft nicht bedienen.“
Zudem verzerre der Beschluss den Wettbewerb, klagte der Edeka-Chef. Supermärkte mit Bedientheken und einer dadurch höheren Verweildauer der Kunden seien extrem benachteiligt im Vergleich zu Konkurrenten, die nur auf Selbstbedienung setzten. „Das wird einen weiteren Schub geben in Richtung SB-Formate mit ausschließlich preisorientierten Angeboten“, prognostizierte der Händler.
Zuspruch bekamen Genth und Mosa vom Chefvolkswirt des Bundesverbands der mittelständischen Wirtschaft, Hans-Jürgen Völz, der die Beschlüsse als „neuen Tiefschlag“für den stationären Einzelhandel bezeichnete. Er sprach am Donnerstag von einem starken Konjunkturimpuls für große Online-Versandhändler: „Das klassische Weihnachtsgeschäft der Monate November und Dezember hat sich damit für viele Geschäfte schon erledigt.“
Während die Maßnahmen für den Handel zusätzliche Belastungen bringen, bleiben Entlastungen für andere Branchen weiterhin aus. So hatten Bund und Länder am Mittwochabend ebenfalls beschlossen, dass der Teil-Lockdown mit der Schließung unter anderem von Restaurants, Theatern, Fitnessstudios, Freizeiteinrichtungen bis zum 20. Dezember verlängert wird. Zum zweiten Mal seit Frühjahr brechen diesen Unternehmen damit wochenlang nahezu sämtliche Umsätze weg.
Schon in den ersten drei Novemberwochen seien die Umsätze um im Schnitt 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen, im Bekleidungshandel sogar um 40 Prozent. Der HDE rechnet zwar für November und Dezember weiter mit einem Gesamtumsatz von 104 Milliarden Euro. Doch dürften sich noch mehr Umsätze in den Online-Handel verlagern. Die Umsätze im Netz könnten – so die Schätzungen des Verbands – um zwei Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr wachsen, sodass der Online-Handel 2020 erstmals ein Gesamtvolumen von 70 Milliarden Euro erreicht. Insgesamt setzt der Einzelhandel in Deutschland jährlich gut 540 Milliarden Euro um.
Wie schlecht die Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben die Situation des Handels in Baden-Württemberg einschätzt, zeigt ein Appell von Hauptgeschäftsführer Peter Jany. „Wir appellieren an alle, die Innenstädte in der Region zu unterstützen und bei den Weihnachtseinkäufen – sei es nun online oder auch in den Geschäften vor Ort – die heimischen Angebote, die persönlichen Lieblingsläden mitzubedenken. Denn das Weihnachtsgeschäft steuert für die meisten innerstädtischen Betriebe einen wesentlichen Teil des Jahresumsatzes bei“, sagt Jany am Donnerstag.
Wenig verwunderlich ist es, dass die Verbraucherstimmung wegen des Lockdown light schon „spürbar gedämpft“ist. Das hat jedenfalls Rolf Bürkl von der Gesellschaft für Konsumforschung (gfk) festgestellt. So ging das monatlich erhobene Konsumbarometer für Dezember um 3,5 Punkte auf minus 6,7 Punkte zurück. „Zwar bleiben die Einzelhandelsgeschäfte geöffnet, doch die erneute Schließung von Hotellerie, Gastronomie und Veranstaltungsgewerbe trifft – ebenso wie der noch immer am Boden liegende Tourismus – das Konsumklima schwer“, sagte Bürkl. „Damit haben sich auch die Hoffnungen auf eine rasche Erholung, die noch im Frühsommer aufkamen, endgültig zerschlagen“, betonte er. Nur ein spürbares Sinken der Infektionszahlen und eine Lockerung der Beschränkungen würden wieder für mehr Optimismus sorgen, meint der gfk-Forscher. Diese Hoffnung haben auch Ökonomen wie Ulrich Kater, Chefvolkswirt bei der Dekabank. Trotz Kurzarbeit sei die Einkommenslage der Deutschen recht gut, das Konsumverhalten erstaunlich stabil. „Es werden mehr Produkte als Dienstleistungen gekauft“, sagte Kater im Deutschlandfunk.
Das produzierende Gewerbe jedoch ist kaum von den Maßnahmen betroffen. Dennoch warnt auch der Bundesverband der Deutschen Industrie
vor einer weiteren Beeinträchtigung der Wirtschaftsaktivität und der Verbraucherstimmung für den Rest des Jahres. „Das wird die vorübergehende konjunkturelle Erholung auch im kommenden Jahr zunächst in Mitleidenschaft ziehen", sagte Verbandspräsident Dieter Kempf. Die Luft werde im Winter für immer mehr Unternehmer dünner.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) äußert zwar Verständnis für die Verlängerung und teilweise Verschärfung der Maßnahmen, die seien geboten, um die drohende Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Doch sagt ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer auch: „Dieser Schritt trifft viele unserer Handwerksbetriebe unbestreitbar sehr hart.“Andererseits seien jetzt schon viele Handwerksbetriebe wegen der hohen Quarantäneausfälle in ihrer Arbeitsfähigkeit stark beeinträchtigt. Wollseifer freut sich über die Ankündigung der „Dezemberhilfen“, doch habe die Konzeption der Novemberhilfen schon gezeigt, wie schwierig die Umsetzung sei. Die Betriebe benötigten aber dringend Unterstützung, ihre Lage verschärfe sich zusehends, mahnt Wollseifer.
Ähnlich sieht das auch der Hotelund Gaststättenverband. „Die Situation unserer Branche ist sehr dramatisch“, sagte die Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, Ingrid Hartges. Weil nun die Gehälter für den November und die nächste Pachtzahlung fällig seien, müssten die Novemberhilfen schnell ausgezahlt werden. Sie hofft zudem darauf, dass die Hilfen im Dezember im gleichen Umfang weitergezahlt würden wie im November.
Doch sei der aktuelle Shutdown nicht zu vergleichen mit der Situation im Frühjahr, meint Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland. „Wie das jetzt ein Lockdown light ist, wird das auch ein Schrumpfen light werden“, sagt Brzeski. Im Verlauf des ersten Quartals 2021, wenn die Lockdown-Maßnahmen vielleicht gelockert werden könnten und auch mit Impfungen begonnen werde, werde die wirtschaftliche Aktivität zurückkehren, meint Brzeski. „Dann kann man auch wieder ein bisschen optimistischer in die weitere Zukunft schauen.“
Für das neue Jahr fordert der Baden-Württembergische Industrieund Handelskammertag (BWIHK) von der Politik eine Corona-Strategie, die weitere Branchenschließungen unnötig macht. „Es kann doch nicht die Lösung sein, sich auch im nächsten Jahr weiter im Kreis von Lockdown zu Hilfsprogrammen und Wiederanfahren zu bewegen. Das können wir uns volkswirtschaftlich schlichtweg nicht länger leisten“, sagte BWIHK-Präsident Wolfgang Grenke. Es brauche jetzt „Lösungsvorschläge für 2021, die verlässlich Geschäftsmöglichkeiten für alle in den Blick“nähmen. Betriebe in Hotellerie, Gastronomie, Kunst, Kultur und weiten Teilen des stationären Handels erwarteten „endlich Planungssicherheit“.