Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Furcht vor erneuter Eskalation
Nach Mord am Ex-Chef des iranischen Atomprogramms warnen Sicherheitsexperten vor Anschlägen auf Israel
ISTANBUL - Ein iranischer Atomwissenschaftler wurde auf offener Straße ermordet, ein israelischer Minister sagt dazu: „Der Iran ruft zur Zerstörung Israels auf und deshalb ist aus unserer Sicht jeder, der aktiv an nuklearen Aufrüstungsbestrebungen beteiligt ist, des Todes.“Droht ein Krieg im Nahen Osten?
Hardliner in Irans Hauptstadt Teheran fordern nach dem Mord an dem iranischen Atomwissenschaftler Mohsen Fakhrizade blutige Rache an Israel. Parlamentspräsident Mohammad Bagher Ghalibaf, ein führender Konservativer und Ex-Offizier der Revolutionsgarde, sagte ohne „starke Antwort“werde der Feind seine Taten nicht bereuen. Eine Vergeltung für den Anschlag ist schon aus innenpolitischen Gründen sehr wahrscheinlich – der Mord hat die Schwäche des iranischen Sicherheitsapparates entblößt. Doch die Antwort dürfte begrenzt bleiben. Das Regime will keinen Krieg auslösen, der die eigene Existenz gefährden könnte.
Fachrisadeh, der Leiter des 2003 eingestellten Atombombenprogramms des Iran, wurde am Freitag in Absard von Unbekannten erschossen. Die Täter konnten fliehen, doch die iranische Führung gibt Israel die
Schuld. Experten und US-Politiker vermuten Folgendes: Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu will die Spannungen mit dem Iran vor der Amtsübernahme des neuen US-Präsidenten Joe Biden im Januar anheizen. Denn Biden plant eine Annährung an Teheran nach vier Jahren offener Feindschaft unter Amtsinhaber Donald Trump. Der Anschlag habe den Zweck gehabt, „die amerikanische Diplomatie zu untergraben“, schimpfte der US-Senator Bernie Sanders auf Twitter.
Der Mord an Fachrisadeh war die dritte schwere Demütigung der iranischen Sicherheitsbehörden in diesem Jahr. Im Januar töteten die USA den legendären General Qassem Soleimani,
Chef der Auslandstruppe der Revolutionsgarde, in Bagdad. Im Sommer explodierte ein stark gesichertes Atom-Forschungszentrum in Natanz bei Isfahan. Und nun starb Fachrisadeh, einer der bestgeschützten Männer des Landes. Trotzdem wussten die Attentäter genau, wann sein Wagen in Absard auftauchen würde. Ein mit Sprengstoff beladener Lastwagen explodierte, als Fachrisadeh vorbeifuhr. Anschließend eröffneten mindestens fünf bewaffnete Männer das Feuer auf Fachrisadehs Auto, wie iranische Medien berichteten.
Die iranische Regierungspropaganda stellt Armee, Geheimdienste und die Revolutionsgarde als mächtige Institutionen dar, die den Feinden des Landes das Fürchten lehren. Fachrisadehs Tod ist deshalb auch ein schwerer Schlag für den iranischen Unterdrückungsapparat: Gegen regierungskritische Demonstranten im eigenen Land gehen die Sicherheitsbehörden mit großer Härte vor, doch sie können den wichtigsten Atomwissenschaftler nicht schützen. Das Regime nehme den Mund zu voll, sagt Alex Vatanka, Iran-Experte am Nahost-Zentrum in Washington. Der Anschlag von Absard zeige, dass kein iranischer Regimevertreter sicher sei, schrieb er auf Twitter.
Revolutionsführer Ali Khameini, Präsident Hassan Ruhani und andere Spitzenpolitiker haben Vergeltung für Fachrisadehs Tod angekündigt. Extreme Aktionen dürfte es aber nicht geben, obwohl Israel in der Reichweite iranischer Raketen liegt. Teheran hofft auf einen Abbau der amerikanischen Wirtschaftssanktionen nach Bidens Amtsübernahme – ein Krieg mit Israel würde diese Chance zunichtemachen.
Auch Raketenangriffe auf die rund 40 000 amerikanischen Soldaten am Persischen Golf wären für den Iran kontraproduktiv. Das Regime wird alles vermeiden wollen, was massive israelische oder amerikanische Militärschläge auslösen könnte. Das eigene Überleben habe für die Führung oberste Priorität, sagen Experten wie Vatanka.
Wahrscheinlicher sind Anschläge auf israelische Botschaften, auf Öltanker im Golf oder auf die Ölindustrie beim amerikanischen Partner Saudi-Arabien. Zu erwarten ist auch, dass der Iran sein Atomprogramm und die Anreicherung von Uran noch stärker vorantreiben wird. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde hortet der Iran zweieinhalb Tonnen schwach angereichertes Uran – mehr als zehnmal so viel wie der internationale Atomvertrag von 2015 erlaubt.