Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Alles auf dem Kopf
In Einrichtungen für Menschen mit Behinderung hat die Corona-pandemie den Alltag komplett verändert – Viele fühlen sich von der Politik vergessen
HEGGBACH - Der kleine Ort Heggbach im Landkreis Biberach ist ein Zuhause für Menschen mit Behinderung. Normalerweise pulsiert hier das Leben: Die Bewohner des Wohnverbunds, der zur St. Elisabeth-stiftung gehört, gehen ihrem Alltag nach, arbeiten in der Werkstatt, kaufen in dem kleinen Dorfladen ein und bekommen Besuch von Angehörigen. „Eigentlich ist das hier ein Ort der Begegnung“, sagt Melanie Lenzen, Bereichsleiterin im Heggbacher Wohnverbund. 500 Menschen mit Behinderung betreut die St.-elisabethstiftung in ihrem Heggbacher Wohnverbund, 230 davon leben in den Häusern in Heggbach, die anderen in Biberach, Ochsenhausen, Laupheim und weiteren Standorten.
Doch die Corona-pandemie hat die Wege auf dem Gelände des ehemaligen Klosters leer gefegt. Nur vereinzelt sind Bewohner und Mitarbeiter der Wohngemeinschaften unterwegs, es herrscht Abstandsund nach Möglichkeit Maskenpflicht. Gerade letztere lässt sich nicht bei allen Menschen mit geistiger Behinderung durchsetzen, erklärt Lenzen. Die frühere Tagesstruktur fiel weg. Viele der Menschen mit Behinderung sind zunehmend isoliert, können das, was um sie herum passiert, aber nicht verstehen, sagt Victor Schätzle, Heilerziehungspfleger und Leiter zweier Wohngemeinschaften in Heggbach. „Das verunsichert die Bewohner sehr.“
Auch die Sozialverbände im Land schlagen Alarm, weil der Corona-lockdown Menschen mit Behinderungen besonders schwer trifft. Eine selbstbestimmte Teilhabe sei aus Sicherheitsgründen für Menschen mit Behinderung meist nicht mehr möglich, teilte etwa Björn Vissering, Vorsitzender der Lebenshilfe Baden-württemberg, mit. Doch für alternative Kontaktmöglichkeiten fehle Menschen mit Behinderung Hardware, Software, Schulung und regelmäßige Assistenz, beklagte er.
Aus der Praxis kann Victor Schätzle das bestätigen. Eigentlich sei ein zentraler Aspekt seiner Arbeit, die Menschen mit Behinderung pädagogisch zu unterstützen, damit diese möglichst viel selbstständig tun können – Einkaufen gehen im örtlichen Laden zum Beispiel. In vielen Fällen sei sogar das eigenständige Schmieren eines Brotes Ergebnis eines langen Lernprozesses. Der pädagogische Aspekt seiner Arbeit bleibe durch Corona aber fast gänzlich auf der Strecke, sagt Schätzle. „Vieles, was wir da geleistet haben, ist jetzt wieder bei null.“
Besonders schlimm für die Menschen mit Behinderung sei im vergangenen Jahr außerdem das Besuchsverbot gewesen. Bis Juni durften keine Freunde oder Verwandte das Gelände betreten. „Dabei ist der Besuch von Angehörigen ein wichtiger Anker im Leben der Bewohner“, erklärt er.
Aber auch aktuell nehmen die Herausforderungen nicht ab. Zuletzt hatte sich die Situation in einer von Schätzles Wohngemeinschaften besonders zugespitzt. Ein Bewohner infizierte sich Anfang des Jahres mit dem Virus. Die Folge: Auch seine Mitbewohner steckten sich an, insgesamt war die WG über fünf Wochen in Isolation. „Das war besonders schwierig, weil dort verhaltensauffällige Menschen mit einem fremd- und selbstverletzenden Verhalten zusammenleben“, sagt Bereichsleiterin Lenzen. „Wenn sie die ganze Zeit aufeinanderhocken, schaukelt sich das schnell hoch. Da kann es dann auch mal so richtig knallen“, ergänzt Victor Schätzle.
Zertretene Plexiglasscheiben, ein Dvd-player, der gegen die Wand geworfen wurde und andere Sachbeschädigungen waren die Folge. Trotzdem ist Schätzle froh und überrascht darüber, wie gut seine Schützlinge den Quarantäne-frust wegsteckten. „Ich habe am Anfang gedacht ,ohje, da gibt es bestimmt einige blutige Nasen’. Aber man unterschätzt die Bewohner oft. Die können mehr wegstecken, als man denkt“, sagt er.
Und auf einen weiteren Erfolg ist der Heilerziehungspfleger stolz: Während sich eine Ansteckung der Bewohner untereinander nicht vermeiden ließ, ist es gelungen, dass sich kein einziger Mitarbeiter in der Wohngemeinschaft infizierte. „Wir haben in dieser Zeit sehr fokussiert gearbeitet und haben uns auch in unserem Privatleben isoliert“, sagt er. So hätten manche Mitarbeiter in dieser Zeit zum Beispiel die eigenen Eltern nicht mehr besucht. Außerdem haben sich laut Schätzle die Pfleger über den gängigen Standard hinaus geschützt: Ein Ganzkörperschutzanzug war Pflicht. Über ihre Hände zogen die Mitarbeiter eine doppelte Lage Handschuhe und die Ffp2-maske im Gesicht wurde mit einer Schutzbrille und einem Visier ergänzt.
Vorsichtsmaßnahmen, die die Arbeit der Mitarbeiter erschweren – aber auch die Bewohner verwirren. Denn wie erklärt man Menschen mit Behinderung, dass ihre täglichen Kontaktpersonen auf einmal mehrere Lagen Schutzkleidung tragen und höchstens noch ihre Augen sichtbar sind? Gerade zu Beginn der Pandemie vor rund einem Jahr, hätten sich die Mitarbeiter des Heggbacher Wohnverbunds damit intensiv beschäftigt, sagt Melanie Lenzen. „Wir haben Informationsplakate erstellt, die so etwas mit möglichst einfacher Sprache und Bildern erklären.“Wie sehen die Mitarbeiter in Schutzausrüstung aus? Was passiert, wenn ein Bewohner Fieber hat? Wie wäscht man sich sich richtig die Hände? Diese und weitere Fragen sollten so beantwortet werden.
Allerdings stoße man beim Versuch, Corona zu erklären schnell an Grenzen. „Diese Menschen sind geistig zum Teil auf dem Level eines Kleinkinds. Man kann ihnen nicht einfach beibringen, was eine Pandemie bedeutet“, sagt Schätzle. Viele suchten nach wie vor die körperliche Nähe. „Sie geben dir zur Begrüßung die Hand oder umarmen dich – so schnell kannst du gar nicht gucken.“Genauso gebe es Bewohner, die aus Frust dem Mitarbeiter die Schutzbrille aus dem Gesicht ziehen oder ihn anspucken.
Die Gefahr, sich anzustecken, sei in einer Einrichtung wie in Heggbach deshalb genauso hoch wie in einem Alters- oder Pflegeheim, glaubt Schätzle. Schließlich arbeiteten die Mitarbeiter genauso nah am Menschen. Als Anfang des Jahres die Corona-impfungen begannen, hatten sie aber lange das Nachsehen: Sie gehörten im Gegensatz zum Personal von stationären Einrichtungen
Heilerziehungspfleger Victor Schätzle über die Corona-isolation in der Wohngemeinschaft
für ältere oder pflegebedürftige Menschen erst zur zweiten Gruppe der Priorität. Das habe bei den Mitarbeitern für Frustration gesorgt, sagt Schätzle. Erst Ende Februar hatte die baden-württembergische Landesregierung den Kreis der Impfberechtigten entsprechend erweitert, sodass mittlerweile auch in Heggbach mit der Impfung von Bewohnern und Mitarbeitern begonnen werden konnte. Bis Ende März sollen in den großen Häusern der Einrichtung alle ihre Erstimpfung erhalten haben.
Trotzdem sagt Melanie Lenzen: „Wir haben uns während der Pandemie immer wieder von der Politik vergessen gefühlt.“Neben der Impfreihenfolge habe sich das etwa an der Corona-prämie gezeigt: Während Pflegekräfte im Krankenhaus oder in Altenheimen bis zu 1500 Euro bekommen hätten, seien es in Einrichtungen für Behinderte wie in Heggbach nur 600 Euro gewesen. „Da wurde mit zweierlei Maß gemessen“, so Lenzen.
Die Impfverordnung kritisiert auch Stephanie Aeffner, seit 2016 Behindertenbeauftragte des Landes Baden-württemberg. Sie bemängelt, dass die besondere Lebenssituation von vielen Menschen mit Behinderung bei der Festlegung der Reihenfolge zu wenig berücksichtigt wurde. Laut Aeffner, die selbst im Rollstuhl sitzt, zeigt sich an der Impfverordnung exemplarisch ein Grunddilemma in der Politik und Wissenschaft: Da Menschen mit Behinderung oft seltene Grunderkrankungen und Diagnosen haben, tauchen sie in Statistiken seltener auf – und werden als Personenkreis häufig ausgeblendet. „Wir sind es in Regelzeiten schon nicht gewöhnt, inklusiv zu denken. In der Krise, wo es besonders schnell gehen muss, fällt dann umso mehr hinten runter.“
Aeffner hat deshalb gemeinsam mit den anderen Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern eine Erklärung mit konkreten Forderungen an die Politik verabschiedet. Neben einer Anpassung der Impfpriorisierung fordern sie darin unter anderem den barrierefreien Zugang zu den Impfzentren. Das fängt schon beim Anmeldeverfahren an: Dieses müsse so gestaltet werden, dass sich auch seh- und hörbehinderte Menschen problemlos registrieren können, heißt es in der Erklärung.
Stephanie Aeffner hofft, dass diese Forderungen Gehör finden. Schließlich habe sich manches in der Corona-pandemie schon verbessert: „Gerade bei den Corona-verordnungen sollten ja alle Bürgerinnen und Bürger verstehen, welche Gesetze gelten. Die ersten Pressekonferenzen zu Corona gab es aber nur ohne Gebärdendolmetschung.“Das sei mittlerweile anders. Außerdem bemühe sich das Land, jede neue Verordnung möglichst schnell in einfache Sprache zu übersetzen und bereitzustellen. „Da hat sich viel getan“, so Aeffner.
Allerdings habe sie zugleich die Befürchtung, dass die angespannte Haushaltslage durch Corona in den nächsten Jahren für weniger Investitionen in die Inklusion führen wird. „Das richtige Verständnis dafür ist immer noch nicht da. Leistungen für Menschen mit Behinderungen werden meistens als soziale Wohltat verstanden, die man sich leisten können muss“, kritisiert Aeffner. Damit sich das ändere, müssten Menschen mit Behinderung viel sichtbarer in der Gesellschaft sein – und auch Schlüsselpositionen in der Politik und Wirtschaft besetzen. „Nur so können diese Menschen wirklich ein Stimme haben“, sagt die Behindertenbeauftragte.
Noch gibt es dafür aber zahlreiche Hürden – unter anderem die Corona-pandemie. Sie verhindert auf absehbare Zeit auch in Heggbach die Rückkehr zur Normalität. Trotz dem Ärger um die Impfreihenfolge setzen Victor Schätzle und Melanie Lenzen große Hoffnung in die Vakzine. „Ich hoffe, dass der Alltag für Menschen mit Behinderung - und damit auch für uns im Team - dann wieder unbeschwerter ist."
Das Personal habe durch Corona deutlich mehr zu tun. Denn sie müssten nicht nur sämtliche Hygienemaßnahmen einhalten, sondern diese auch dokumentieren. „Das ist ein riesiger Verwaltungsaufwand“, sagt der Heilerziehungspfleger. Die Pandemie sei ein absoluter Ausnahmezustand, den sowohl das Personal als auch die Bewohner des Heggbacher Wohnverbunds nicht ewig aushalten könnten, so Schätzle. „Wenn man es mit einem Handyakku vergleicht, würde ich sagen, wir sind noch bei 25 Prozent.“
„Wenn sie die ganze Zeit aufeinanderhocken, schaukelt sich das schnell hoch. Da kann es dann auch mal so richtig knallen.“