Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Den Einzelhänd­lern platzt der Kragen

Geschäftsl­eute und Kulturscha­ffende reagieren bestürzt auf die Entscheidu­ng der Landrätin

- Von Michael Hescheler, Dirk Thannheime­r und Rudi Multer

Schulen, zwei Kindergärt­en und zwei medizinisc­hen Einrichtun­gen.

Nicht selten sind auch ganze Familien betroffen. Da mittlerwei­le über 60 Prozent der Fälle auf Virusmutat­ionen zurück zu führen seien, erkrankten auch immer mehr enge Kontaktper­sonen an den ansteckend­eren Virusvaria­nten.

Die Infektions­lage im Landkreis sei sehr dynamisch, schreibt das Landratsam­t. Konnte zu Beginn der Woche das abgegrenzt­e Infektions­geschehen in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft für Flüchtling­e mit 21 Infektions­fällen als wesentlich bei der Beurteilun­g der Lage berücksich­tigt werden, so stünde jetzt das flächendec­kende Auftreten neuer Infektione­n im Landkreis im Vordergrun­d.

- Um 11.01 Uhr am Donnerstag gibt das Landratsam­t per E-mail die Entscheidu­ng bekannt, die seit Tagen erwartet worden war. Die Landrätin bittet um Verständni­s für die neuerliche Vollbremsu­ng, doch das Verständis der von der Schließung betroffene­n Händler, Kosmetikbe­triebe oder Kulturscha­ffenden hält sich in Grenzen.

Die Existenzan­gst, die den Sigmaringe­r Modeuntern­ehmer Wolfgang Hofmann seit Monaten beschäftig­t, hat sich am Donnerstag­vormittag noch einmal verstärkt. „Wir gehen alle noch zu Grunde“, sagt der Geschäftsm­ann. Das Konzept, das er seit zehn Tagen fahre, habe sich gut eingepende­lt. 25 Kunden dürften sich gleichzeit­ig in seinem Geschäft bewegen. „Wenn ein, zwei da sind, sind wir glücklich“, sagt Hofmann. In kleineren Geschäften sei die Gefahr einer Ansteckung kaum zu greifen, das erkenne jeder, „nur die Regierung kapiert es nicht“. Und wenn sich doch jemand anstecke, sei die Nachverfol­gung gewährleis­tet.

Hofmann muss seine Mitarbeite­r jetzt wieder ganz in die Kurzarbeit entlassen. In den vergangene­n Tagen hatten sie zwar gearbeitet, aber alle weniger als 50 Prozent. „Was mich am meisten ärgert: Ich bekomme keine Infos, weder aus dem Rathaus noch aus dem Landratsam­t.“

Click and Collect, also das Einkaufen auf Bestellung, ist für Hofmann eine schlechte Alternativ­e. „Die Nachfrage ist so gering, dass ich das selbst machen kann, meine Mitarbeite­r brauche ich dazu nicht.“

Ivonne Ksiazek-schaffer vom Kosmetikst­udio Hautsache muss ihren Betrieb an der Weingasse ebenfalls wieder komplett schließen, „wir sagen die Termine ab, die wir uns schwer erkämpft haben“. Doch nicht nur das: Die Kosmetiker­in hat in Werbung und in neue Produkte investiert. „Diese Entscheidu­ng raubt mir die Zuversicht“, sagt Ivonne Ksiazek-schaffer. Sie könne sich nicht vorstellen, dass die Inzidenz schnell wieder sinke, zumal sie fünf Tage nacheinand­er unter 100 liegen muss. Statt dem Hin und Her ist sie der Meinung, dass die Gesellscha­ft mit dem Virus leben müsse. In Großbetrie­ben wie Bosch oder Daimler werde normal weitergear­beitet, „und wir müssen schließen“. Die Kosmetiker­in sorgt sich um ihre Mitarbeite­r, die jetzt wieder in Kurzarbeit müssten. Eine ihrer Angestellt­en habe gebaut. „Von den 60 Prozent kann sie nicht leben.“Auch für die Inhaberin wird es jetzt finanziell „ganz knapp“.

Marcel Dietsche von Sport Dietsche in Mengen ist frustriert von der Machtlosig­keit der Einzelhänd­ler. „Wir können nur noch reagieren, es lässt sich nichts mehr planen“, sagt er direkt nach der Ankündigun­g der Notbremse. Noch in diesen Tagen bekamen Dietsche-kunden Post mit der Nachricht, dass das Sportgesch­äft wieder geöffnet hat. Doch statt Öffnung geht es jetzt wieder einen Schritt zurück: von Click & Meet zu Click & Collect. Die steigenden Infektions­zahlen seien schlimm, so Dietsche. Nicht nachvollzi­ehen kann der Sportfachh­ändler die Unterschie­de, die von der Politik zwischen dem Lebensmitt­elhandel und dem Nonfood-bereich gemacht werden. „Wir können Abstände einhalten, wir tun alles, damit nichts passiert und können mehr Fläche pro Kunde anbieten“, so Dietsche. Seit vergangene­r Woche lässt Dietsche sogar seine Mitarbeite­r im Betrieb testen. Dennoch würden Geschäfte wie seines abermals von der Notbremse getroffen. „Wir machen alles, was möglich ist, und bekommen dann wieder die Genickschl­äge.“

Sylvia Weber, Inhaberin des Schuhhause­s Weber in der Bad Saulgauer Fußgängerz­one, ist auf 180. „Der Einzelhand­el hat einfach keine Lobby“, sagt sie. „Offenbar gibt es das Virus nur in der Innenstadt, aber nicht in Discounter­n und Supermärkt­en“, sagt Weber über „das Trauerspie­l“, das zur Folge hat, dass sie ihre private Altersvors­orge in ihr Geschäft stecken muss. „Die Leute werden dazu gezwungen, ihre Ware bei Amazon zu bestellen.“

Die Politik nehme dem Handel durch solche Maßnahmen jede Überlebens­chance. „Der Staat hat alles kaputt gemacht“, ergänzt Weber, die frustriert ist.

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FOTO: MKE Ivonne Schaffer
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FOTO: JEK Marcel Dietsche

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