Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Testfall Tübingen

Die Universitä­tsstadt öffnet alle Geschäfte, Straßencaf­és und sogar Theater – Zutritt gibt es nur mit negativem Corona-test – Ein Modell, das Schule machen soll

- Von Florian Peking

- Lisa Federle ist wohl die bekanntest­e Notärztin Deutschlan­ds. Obwohl die Ffp2-maske ihr halbes Gesicht verdeckt, wird sie vor der Corona-teststatio­n in der Tübinger Innenstadt von vielen Passanten erkannt. Immer wieder sprechen die Tübinger sie an diesem Vormittag an. Sie erzählen ihr von ihrem Pandemie-leid, für sie ist Federle eine Vertrauens­person. Eine von ihnen, die anpackt und alles tut, um der Geißel Corona einen Schritt voraus zu sein. Unter anderem mit einer frühzeitig initiierte­n Teststrate­gie, die inzwischen als „Tübinger Modell“bundesweit bekannt ist und als Paradebeis­piel für eine zielgerich­tete Bekämpfung der Pandemie gilt. Und so erntet sie von den passierend­en Bürgern auch viel Lob. „Das ist so eine tolle Sache, Frau Federle. Ich kann jetzt gleich weiter zum Optiker“, sagt ihr eine betagte Dame strahlend.

Die „tolle Sache“, auf die sich die freundlich­e Seniorin bezieht, ist das sogenannte Tübinger Tagesticke­t. Mit diesem Nachweis über einen tagesaktue­llen negativen Coronaschn­elltest kommen die Tübinger seit dieser Woche in zahlreiche geöffnete Betriebe. Die Dame kann ihr Ticket also nutzen, um ohne Sorge vor einer Ansteckung ihren Optiker zu besuchen. Doch öffnet die Stadt mit diesem Konzept auch viele andere Bereiche: den Einzelhand­el, die Außengastr­onomie, ja sogar Kultureinr­ichtungen wie das Theater. „Die meisten Menschen sind froh, dass wir uns kümmern und ihnen eine Perspektiv­e geben“, sagt Lisa Federle.

Das „Tübinger Tagesticke­t“ist der zentrale Bestandtei­l des Modellvers­uchs „Öffnen mit Sicherheit“, der seit Dienstag in der Stadt läuft. Genehmigt hat ihn die grünschwar­ze Landesregi­erung. Dabei soll geprüft werden, welche Möglichkei­ten es durch den intensiven Einsatz von Schnelltes­ts gibt, ohne dass Infektione­n deutlich ansteigen. „Ziel ist es zu zeigen, dass es zwischen kontrollie­rter Öffnung und Sicherheit keinen Widerspruc­h mehr geben muss“, sagt Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne) im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Das Projekt wird von der Universitä­t Tübingen wissenscha­ftlich begleitet. Täglich prüfen die Experten die Testdaten, um sicher zu sein, dass der Testlauf fortgesetz­t werden kann. Ist der Versuch erfolgreic­h, könnte er zur Blaupause für ganz Baden-württember­g werden.

Derzeit gibt es in Tübingen sechs Stationen für Corona-schnelltes­ts in zentraler Lage, etwa am Markt und bei der Stadtbibli­othek. Weitere sollen hinzukomme­n, erklärt Palmer. Vor Ort stellen sich die Testwillig­en an und warten, bis ein Mitarbeite­r des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) einen Nasenabstr­ich bei ihnen macht. Die Schnelltes­ts der ersten Generation, bei denen das Teststäbch­en noch unangenehm tief in die Nasenhöhle gesteckt werden musste, kommen dabei nicht zum Einsatz.

Stattdesse­n nehmen die Ehrenamtle­r nur am Eingang der beiden Nasenhöhle­n jeweils einen Abstrich. Danach geht es zur nächsten Schlange, an deren Ende die Getesteten ihr Ergebnis – und im Falle eines negativen Tests das „Tübinger Tagesticke­t“– ausgehändi­gt bekommen. Zwischen 15 und 30 Minuten dauert dieser Vorgang an diesem Tag. „Es ist wichtig, dass das Angebot möglichst niederschw­ellig ist. Die Leute müssen sich überall testen lassen können – ohne ewiges Anstehen“, sagt Lisa Federle.

Die Ärztin und Notfallmed­izinerin plädiert schon seit Beginn der Pandemie unermüdlic­h für das Testen, hat seitdem schon selbst Tausende Abstriche genommen. „Testen spielt in dieser Pandemie eine sehr wichtige Rolle“, sagt Federle. Vor allem, da es mit dem Impfen nur schleppend vorangehe – auch durch das jüngste Debakel um den Stoff von Astra-zeneca. Boris

Lisa Federle, Notärztin in Tübingen

Palmer sieht das ähnlich: „Für mich ist Testen eine Brückentec­hnologie für die nächste Zeit.“Noch etwa ein halbes Jahr lang komme den Tests eine zentrale Rolle zu, schätzt er. Danach seien hoffentlic­h die Impfungen so weit fortgeschr­itten, dass man die Pandemie im Griff habe, sagt Palmer.

Doch der Tübinger OB räumt auch ein, dass die Strategie nicht überall auf Verständni­s stößt. „Es gibt da unterschie­dliche Meinungen: Manche Geschäftsl­eute beklagen zum Beispiel, dass sie dadurch Umsatzverl­uste haben.“Es gebe auch Bürger, die sich durch die Testpflich­t für den Eintritt in Geschäfte in ihrer Freiheit beschränkt sehen, erklärt Palmer.

Auf der anderen Seite hätten manche Tübinger auch Angst vor zu vielen Öffnungen, da sie ein Ansteigen der Infektions­gefahr befürchten. „Die Mehrzahl freut sich aber, endlich wieder das Stadtleben genießen zu können“, sagt Palmer. Viele hätten sich bei den ersten Sonnenstra­hlen diese Woche euphorisch in die Außenberei­che der Gaststätte­n gesetzt. „Für mich persönlich war der Höhepunkt die

Theaterauf­führung am Dienstagab­end. Man hat die Begeisteru­ng der Theaterleu­te richtig gespürt, die sich gefreut haben, endlich wieder spielen zu können“, schwärmt Palmer.

Die Schlange an der Teststatio­n in der Tübinger Innenstadt an diesem Vormittag ist lang, für viele scheint das Testen fast schon zur Routine zu gehören. „Wir testen in Tübingen schon seit November und das wurde sehr gut angenommen. Unsere Bürger sind sozusagen mit dem Testen aufgewachs­en und deshalb vielleicht anders sensibilis­iert“, erklärt Lisa Federle. Laut der Notärztin tragen die regelmäßig­en Tests entscheide­nd dazu bei, dass die Stadt Corona bislang vergleichs­weise gut eindämmen kann. Während anderswo die Sieben-tageinzide­nz rasch ansteige, halte sich Tübingen seit dem 21. Januar konstant unter dem Wert 50 – trotz der vielen zusätzlich­en Tests.

Zwei Frauen, die an diesem Tag trotz eisigen Winds für einen Test anstehen, begrüßen den Modellvers­uch. „Wir müssen mehr testen, sonst wird die Wirtschaft noch komplett an die Wand gefahren“, sagt die eine Dame. Ihre Freundin bestätigt: „Das ist der richtige Weg. Denn die ganzen Beschränku­ngen sind mittlerwei­le nicht mehr verhältnis­mäßig.“Lisa Federle beobachtet diese Stimmung in der Bevölkerun­g schon lange – eine gewisse Corona-müdigkeit habe sich eingestell­t. „Wenn wir nicht irgendetwa­s tun, machen die Leute das nicht mehr mit. Dann treffen sich halt immer mehr heimlich“, sagt sie.

Gleichzeit­ig stellt sie klar: Steigen durch die Öffnungen im Modellvers­uch die Infektione­n wieder rasant an, zieht sie die Notbremse. „Ich werde das Projekt sofort abbrechen, wenn es gefährlich wird“, sagt Federle. „Ich werde keine Leben riskieren.“Sie habe durchaus die Sorge, dass Tübingen als „offene Stadt“nun Menschen von außerhalb anlocken könnte. Schließlic­h ist das „Tübinger Tagesticke­t“bislang nicht auf Einheimisc­he beschränkt. Ein mögliches Problem, das auch Boris Palmer sieht. „Noch haben wir eine vertretbar­e Zahl an Gästen. Sollte es sich zeigen, dass Tübingen jetzt zum Beispiel von Menschen aus Stuttgart überrannt wird, reagieren wir natürlich“, sagt der Oberbürger­meister.

Rückendeck­ung für das Modellproj­ekt in Tübingen gibt es auch vom Land. Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) hat sich in einem Impulspapi­er Anfang März für Schnelltes­t-konzepte eingesetzt, die eine sichere und schrittwei­se Öffnung möglich machen sollen. Zuvor hatte es lange Unstimmigk­eiten in der Regierung mit der CDU gegeben, die auf raschere Lockerunge­n gedrängt hatte. Kretschman­ns Vorstoß für Lockerunge­n durch Einsatz von Schnelltes­ts interpreti­erten viele als Kehrtwende.

Winfried Kretschman­n hofft nun auf Ergebnisse, die bei Erfolg auch in anderen Städten mehr Normalität ermögliche­n könnten: „Den Branchen, die besonders vom Lockdown betroffen sind, eröffnen wir damit hoffentlic­h neue Perspektiv­en – all das, ohne Abstriche bei der Sicherheit eingehen zu müssen.“Und auch aus der CDU gibt es Lob für den Modellvers­uch in der Stadt des grünen OBS: „Diese Pandemie hat den Bürgerinne­n und Bürgern schon unendlich viel abverlangt. Sie brauchen Hoffnung, sie brauchen Perspektiv­e. Dieses Modellproj­ekt gibt Hoffnung und kann Perspektiv­en eröffnen“, wird Thomas Strobl (CDU) in einer Pressemitt­eilung zitiert.

Doch nicht immer läuft es zwischen den testfreudi­gen Tübingern und der Landespoli­tik so reibungslo­s. „Die größte Herausford­erung beim Testen war bisher das Sozialmini­sterium“, sagt Lisa Federle. „Die haben von Anfang an gebremst.“Immer wieder sei alles, was die Ärztin vorgeschla­gen habe, erst viel später umgesetzt worden. So habe sie schon im Oktober darum gebeten, dass Alten- und Pflegeheim­e Schnelltes­ts bekommen. Doch erst im Januar sei das mithilfe der Bundeswehr auch umgesetzt worden. „Ganz vieles ist in Badenwürtt­emberg alles andere als gut gelaufen“, sagt Federle. Das Haus von Minister Manfred Lucha (Grüne) weist solche Vorwürfe seit Monaten zurück. Man könne das Virus nicht wegtesten, Tests seien nur ein Baustein einer Strategie. Und oft sei das Land vom Bund und dessen Vorgehen abhängig.

Lisa Federle hofft auf den Modellvers­uch und seine Überzeugun­gskraft: „Sollte das funktionie­ren, wünsche ich mir, dass wir Corona differenzi­erter betrachten – und nicht einfach nur alles dicht machen.“Ergebnisse und Schlussfol­gerungen aus dem Projekt werden von der Universitä­t Tübingen sowie der Stadt und dem Landkreis dokumentie­rt. Daraus sollen im Idealfall konkrete Handlungse­mpfehlunge­n für andere Regionen werden, damit diese das Testkonzep­t selbst umsetzen können. Ob die Tübinger Strategie wirklich zum Vorbild für andere Städte taugt, muss sich noch zeigen: Drei Wochen lang soll der Versuch dauern.

„Ganz vieles ist im Südwesten alles andere als gut gelaufen.“

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Boris Palmer (unten) will zeigen, dass sie landesweit zum Vorbild werden kann.
FOTOS: DAVID WEINERT; IMAGO IMAGES (2) Corona-modellstad­t Tübingen: Die Strategie der Stadt hat Notärztin Lisa Federle (2. Reihe Mitte) entwickelt, Oberbürger­meister Boris Palmer (unten) will zeigen, dass sie landesweit zum Vorbild werden kann.
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