Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Testfall Tübingen
Die Universitätsstadt öffnet alle Geschäfte, Straßencafés und sogar Theater – Zutritt gibt es nur mit negativem Corona-test – Ein Modell, das Schule machen soll
- Lisa Federle ist wohl die bekannteste Notärztin Deutschlands. Obwohl die Ffp2-maske ihr halbes Gesicht verdeckt, wird sie vor der Corona-teststation in der Tübinger Innenstadt von vielen Passanten erkannt. Immer wieder sprechen die Tübinger sie an diesem Vormittag an. Sie erzählen ihr von ihrem Pandemie-leid, für sie ist Federle eine Vertrauensperson. Eine von ihnen, die anpackt und alles tut, um der Geißel Corona einen Schritt voraus zu sein. Unter anderem mit einer frühzeitig initiierten Teststrategie, die inzwischen als „Tübinger Modell“bundesweit bekannt ist und als Paradebeispiel für eine zielgerichtete Bekämpfung der Pandemie gilt. Und so erntet sie von den passierenden Bürgern auch viel Lob. „Das ist so eine tolle Sache, Frau Federle. Ich kann jetzt gleich weiter zum Optiker“, sagt ihr eine betagte Dame strahlend.
Die „tolle Sache“, auf die sich die freundliche Seniorin bezieht, ist das sogenannte Tübinger Tagesticket. Mit diesem Nachweis über einen tagesaktuellen negativen Coronaschnelltest kommen die Tübinger seit dieser Woche in zahlreiche geöffnete Betriebe. Die Dame kann ihr Ticket also nutzen, um ohne Sorge vor einer Ansteckung ihren Optiker zu besuchen. Doch öffnet die Stadt mit diesem Konzept auch viele andere Bereiche: den Einzelhandel, die Außengastronomie, ja sogar Kultureinrichtungen wie das Theater. „Die meisten Menschen sind froh, dass wir uns kümmern und ihnen eine Perspektive geben“, sagt Lisa Federle.
Das „Tübinger Tagesticket“ist der zentrale Bestandteil des Modellversuchs „Öffnen mit Sicherheit“, der seit Dienstag in der Stadt läuft. Genehmigt hat ihn die grünschwarze Landesregierung. Dabei soll geprüft werden, welche Möglichkeiten es durch den intensiven Einsatz von Schnelltests gibt, ohne dass Infektionen deutlich ansteigen. „Ziel ist es zu zeigen, dass es zwischen kontrollierter Öffnung und Sicherheit keinen Widerspruch mehr geben muss“, sagt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Das Projekt wird von der Universität Tübingen wissenschaftlich begleitet. Täglich prüfen die Experten die Testdaten, um sicher zu sein, dass der Testlauf fortgesetzt werden kann. Ist der Versuch erfolgreich, könnte er zur Blaupause für ganz Baden-württemberg werden.
Derzeit gibt es in Tübingen sechs Stationen für Corona-schnelltests in zentraler Lage, etwa am Markt und bei der Stadtbibliothek. Weitere sollen hinzukommen, erklärt Palmer. Vor Ort stellen sich die Testwilligen an und warten, bis ein Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) einen Nasenabstrich bei ihnen macht. Die Schnelltests der ersten Generation, bei denen das Teststäbchen noch unangenehm tief in die Nasenhöhle gesteckt werden musste, kommen dabei nicht zum Einsatz.
Stattdessen nehmen die Ehrenamtler nur am Eingang der beiden Nasenhöhlen jeweils einen Abstrich. Danach geht es zur nächsten Schlange, an deren Ende die Getesteten ihr Ergebnis – und im Falle eines negativen Tests das „Tübinger Tagesticket“– ausgehändigt bekommen. Zwischen 15 und 30 Minuten dauert dieser Vorgang an diesem Tag. „Es ist wichtig, dass das Angebot möglichst niederschwellig ist. Die Leute müssen sich überall testen lassen können – ohne ewiges Anstehen“, sagt Lisa Federle.
Die Ärztin und Notfallmedizinerin plädiert schon seit Beginn der Pandemie unermüdlich für das Testen, hat seitdem schon selbst Tausende Abstriche genommen. „Testen spielt in dieser Pandemie eine sehr wichtige Rolle“, sagt Federle. Vor allem, da es mit dem Impfen nur schleppend vorangehe – auch durch das jüngste Debakel um den Stoff von Astra-zeneca. Boris
Lisa Federle, Notärztin in Tübingen
Palmer sieht das ähnlich: „Für mich ist Testen eine Brückentechnologie für die nächste Zeit.“Noch etwa ein halbes Jahr lang komme den Tests eine zentrale Rolle zu, schätzt er. Danach seien hoffentlich die Impfungen so weit fortgeschritten, dass man die Pandemie im Griff habe, sagt Palmer.
Doch der Tübinger OB räumt auch ein, dass die Strategie nicht überall auf Verständnis stößt. „Es gibt da unterschiedliche Meinungen: Manche Geschäftsleute beklagen zum Beispiel, dass sie dadurch Umsatzverluste haben.“Es gebe auch Bürger, die sich durch die Testpflicht für den Eintritt in Geschäfte in ihrer Freiheit beschränkt sehen, erklärt Palmer.
Auf der anderen Seite hätten manche Tübinger auch Angst vor zu vielen Öffnungen, da sie ein Ansteigen der Infektionsgefahr befürchten. „Die Mehrzahl freut sich aber, endlich wieder das Stadtleben genießen zu können“, sagt Palmer. Viele hätten sich bei den ersten Sonnenstrahlen diese Woche euphorisch in die Außenbereiche der Gaststätten gesetzt. „Für mich persönlich war der Höhepunkt die
Theateraufführung am Dienstagabend. Man hat die Begeisterung der Theaterleute richtig gespürt, die sich gefreut haben, endlich wieder spielen zu können“, schwärmt Palmer.
Die Schlange an der Teststation in der Tübinger Innenstadt an diesem Vormittag ist lang, für viele scheint das Testen fast schon zur Routine zu gehören. „Wir testen in Tübingen schon seit November und das wurde sehr gut angenommen. Unsere Bürger sind sozusagen mit dem Testen aufgewachsen und deshalb vielleicht anders sensibilisiert“, erklärt Lisa Federle. Laut der Notärztin tragen die regelmäßigen Tests entscheidend dazu bei, dass die Stadt Corona bislang vergleichsweise gut eindämmen kann. Während anderswo die Sieben-tageinzidenz rasch ansteige, halte sich Tübingen seit dem 21. Januar konstant unter dem Wert 50 – trotz der vielen zusätzlichen Tests.
Zwei Frauen, die an diesem Tag trotz eisigen Winds für einen Test anstehen, begrüßen den Modellversuch. „Wir müssen mehr testen, sonst wird die Wirtschaft noch komplett an die Wand gefahren“, sagt die eine Dame. Ihre Freundin bestätigt: „Das ist der richtige Weg. Denn die ganzen Beschränkungen sind mittlerweile nicht mehr verhältnismäßig.“Lisa Federle beobachtet diese Stimmung in der Bevölkerung schon lange – eine gewisse Corona-müdigkeit habe sich eingestellt. „Wenn wir nicht irgendetwas tun, machen die Leute das nicht mehr mit. Dann treffen sich halt immer mehr heimlich“, sagt sie.
Gleichzeitig stellt sie klar: Steigen durch die Öffnungen im Modellversuch die Infektionen wieder rasant an, zieht sie die Notbremse. „Ich werde das Projekt sofort abbrechen, wenn es gefährlich wird“, sagt Federle. „Ich werde keine Leben riskieren.“Sie habe durchaus die Sorge, dass Tübingen als „offene Stadt“nun Menschen von außerhalb anlocken könnte. Schließlich ist das „Tübinger Tagesticket“bislang nicht auf Einheimische beschränkt. Ein mögliches Problem, das auch Boris Palmer sieht. „Noch haben wir eine vertretbare Zahl an Gästen. Sollte es sich zeigen, dass Tübingen jetzt zum Beispiel von Menschen aus Stuttgart überrannt wird, reagieren wir natürlich“, sagt der Oberbürgermeister.
Rückendeckung für das Modellprojekt in Tübingen gibt es auch vom Land. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat sich in einem Impulspapier Anfang März für Schnelltest-konzepte eingesetzt, die eine sichere und schrittweise Öffnung möglich machen sollen. Zuvor hatte es lange Unstimmigkeiten in der Regierung mit der CDU gegeben, die auf raschere Lockerungen gedrängt hatte. Kretschmanns Vorstoß für Lockerungen durch Einsatz von Schnelltests interpretierten viele als Kehrtwende.
Winfried Kretschmann hofft nun auf Ergebnisse, die bei Erfolg auch in anderen Städten mehr Normalität ermöglichen könnten: „Den Branchen, die besonders vom Lockdown betroffen sind, eröffnen wir damit hoffentlich neue Perspektiven – all das, ohne Abstriche bei der Sicherheit eingehen zu müssen.“Und auch aus der CDU gibt es Lob für den Modellversuch in der Stadt des grünen OBS: „Diese Pandemie hat den Bürgerinnen und Bürgern schon unendlich viel abverlangt. Sie brauchen Hoffnung, sie brauchen Perspektive. Dieses Modellprojekt gibt Hoffnung und kann Perspektiven eröffnen“, wird Thomas Strobl (CDU) in einer Pressemitteilung zitiert.
Doch nicht immer läuft es zwischen den testfreudigen Tübingern und der Landespolitik so reibungslos. „Die größte Herausforderung beim Testen war bisher das Sozialministerium“, sagt Lisa Federle. „Die haben von Anfang an gebremst.“Immer wieder sei alles, was die Ärztin vorgeschlagen habe, erst viel später umgesetzt worden. So habe sie schon im Oktober darum gebeten, dass Alten- und Pflegeheime Schnelltests bekommen. Doch erst im Januar sei das mithilfe der Bundeswehr auch umgesetzt worden. „Ganz vieles ist in Badenwürttemberg alles andere als gut gelaufen“, sagt Federle. Das Haus von Minister Manfred Lucha (Grüne) weist solche Vorwürfe seit Monaten zurück. Man könne das Virus nicht wegtesten, Tests seien nur ein Baustein einer Strategie. Und oft sei das Land vom Bund und dessen Vorgehen abhängig.
Lisa Federle hofft auf den Modellversuch und seine Überzeugungskraft: „Sollte das funktionieren, wünsche ich mir, dass wir Corona differenzierter betrachten – und nicht einfach nur alles dicht machen.“Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Projekt werden von der Universität Tübingen sowie der Stadt und dem Landkreis dokumentiert. Daraus sollen im Idealfall konkrete Handlungsempfehlungen für andere Regionen werden, damit diese das Testkonzept selbst umsetzen können. Ob die Tübinger Strategie wirklich zum Vorbild für andere Städte taugt, muss sich noch zeigen: Drei Wochen lang soll der Versuch dauern.
„Ganz vieles ist im Südwesten alles andere als gut gelaufen.“