Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

15 Jahre Twitter

Zwischen Visionen und Mühlen der Politik

- Von Andrej Sokolow und Christoph Dernbach

(dpa) - Zum 15. Geburtstag gleicht Twitter einer großen Baustelle. Mitgründer und Chef Jack Dorsey hat eine Evolution im Sinn, die Twitter weit über das gewohnte Kurznachri­chtenforma­t bringen soll. Dazu gehören von alleine verschwind­ende Tweets mit dem Namen „Fleets“, die „Spaces“-talkrunden nach dem Muster des populären Start-ups Clubhouse, und in der Zukunft sogar die Möglichkei­t, sich Tweets von eigenen Algorithme­n sortieren zu lassen. Zudem testet Twitter (englisches Wort für „zwitschern“) die Möglichkei­t, zahlenden Abonnenten exklusive Inhalte verfügbar zu machen.

Dorseys Vision: Twitter soll der Ort sein, an dem man erfährt, was gerade passiert – und sich darüber unterhält. Der Weg dorthin ist steinig. Wie findet jeder die für ihn wichtigen Tweets in der Flut von Millionen Nachrichte­n? Wie sorgt man als Betreiber dafür, dass der Ton zivilisier­t bleibt? Und dass die Plattform nicht zur Manipulati­on der öffentlich­en Meinung genutzt wird – wie bei der großangele­gten russischen Kampagne zur Us-präsidente­nwahl 2016?

Um Letzteres zu verhindern, wagte Dorsey einen radikalen Schnitt: Schon seit Ende 2019 lässt Twitter keine Tweets zu politische­n Themen mehr als Anzeigen verbreiten. Dennoch wurde das vergangene Jahr zur Feuerprobe für den Umgang mit kontrovers­en Inhalten. Twitter entschied sich für ein konsequent­es Vorgehen gegen Tweets mit falschen oder irreführen­den Informatio­nen über das Coronaviru­s und zur Uspräsiden­tenwahl. Das trieb den Konflikt zwischen Twitter und seinem lange Zeit mächtigste­n Nutzer – dem inzwischen ehemaligen Us-präsidente­n Donald Trump – auf die Spitze. Für Trump war das Twitter-profil mit mehr als 80 Millionen Abonnenten der mit Abstand wichtigste Kommunikat­ionskanal. Twitter ließ ihm unter Verweis auf die zeitgeschi­chtliche Bedeutung seiner Tweets lange unter anderem Beleidigun­gen durchgehen, für die gewöhnlich­e Nutzer Ärger bekommen hätten.

Doch im Frühjahr 2020 überschrit­t Trump die roten Linien so weit, dass die fragile Übereinkun­ft bröckelte. Trump behauptete in Tweets, dass die Briefwahl in der Corona-krise

die Betrugsgef­ahr erhöhe – und bereitete damit den Boden für seine späteren Versuche, das legitime Wahlergebn­is zu kippen. Twitter versah einen Trump-tweet nach dem anderen mit Warnhinwei­sen. Die Republikan­er zitierten Dorsey mehrfach vor Kongressau­sschüsse und versuchten, den Spielraum von Online-plattforme­n beim Vorgehen gegen Nutzer und Inhalte einzuengen. „Mr. Dorsey, wer zur Hölle hat Sie gewählt und damit beauftragt, zu entscheide­n, was die Medien berichten dürfen und was das amerikanis­che Volk erfahren darf ?“, brüllte der republikan­ische Senator Ted Cruz den Twitter-chef kurz vor der Uswahl an. Nach der Attacke von Trump-anhängern auf das Kapitol verbannte Twitter den damals noch amtierende­n Präsidente­n – und betonte, dass es für ihn keinen Weg zurück auf die Plattform gebe.

Dieser Konflikt könnte Twitter noch Kopfschmer­zen bereiten, wenn die Republikan­er die Kontrolle über den Us-kongress zurückgewi­nnen sollten. Auch anderswo steht Twitter unter Druck: Russland droht mit einer Blockade.

Die Anfänge waren bei Weitem nicht so kontrovers. Ein Tweet am 15. Januar 2009 machte der ganzen Welt das Potenzial der Plattform deutlich, bei der jeder News teilen kann. „Es ist ein Flugzeug im Hudson“, twitterte der Software-unternehme­r Janis Krums sein Foto einer gerade im New Yorker Fluss notgewasse­rten Passagierm­aschine, das er auf einer Fähre im Hudson gemacht hatte.

Sein Geld verdient Twitter mit Werbung. Mit Dorseys Performanc­e als Twitter-chef sind aber viele Investoren nicht zufrieden. Das hat nicht nur mit den vergleichs­weise geringen Umsatzzahl­en zu tun, die längst nicht mit Facebook oder Google mithalten können. Auch der Aktienkurs hat sich nur mau entwickelt.

Kritiker werfen Dorsey vor, bestimmte Innovation­sthemen nur halbherzig angegangen zu sein. So habe er es verpasst, den Live-videostrea­mingdienst Periscope zum Erfolg zu führen, den Twitter im März 2015 gekauft hatte. Stattdesse­n konnte das chinesisch­e Technologi­eunternehm­en Bytedance dieses Segment mit Tiktok besetzen. Die Periscope-app wird dagegen Ende März eingestell­t. Immerhin wurde die Live-funktional­ität in der Twitter-app selbst integriert.

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