Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Das Ende der Tyrannen
In den Theatern formiert sich immer mehr Widerstand gegen toxische Männlichkeit
Feierabend ist ein Fremdwort. Freizeit? Überschätzt. Wer im Theater arbeitet, vor allem mit Stars, muss Opfer bringen. Deshalb sitzt die Assistentenschar oft bis Mitternacht mit den Herren Regisseuren in der Kneipe – falls der große Meister mal eben auf die Serviette einen Geniestreich kritzelt, der sofort in den Werkstätten umgesetzt werden muss. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dem Meister das Essen hinterherzutragen oder seine Privatkorrespondenz zu erledigen. Theaterarbeit heißt, für die Kunst die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen. Es sei, „wie in ein Kloster einzutreten“, pflegte Claus Peymann zu sagen.
In jüngerer Zeit ist das, was hinter den Kulissen als selbstverständlich galt, allerdings in Verruf geraten. #Metoo machte den Anfang und verriet der Öffentlichkeit, dass in der Welt der hehren Kunst Macht mitunter recht schäbig ausgenutzt wird und sexuelle Übergriffe nicht selten sind. Erst Anfang der Woche hat der Intendant der Berliner Volksbühne, Klaus Dörr, seinen Posten geräumt. Zehn Mitarbeiterinnen hatten Beschwerde wegen sexueller Belästigung und Gewalt eingereicht.
Seit Kurzem gibt es aber auch zunehmend Kritik an despotischem Verhalten in Theatern oder am Filmset. Einen, den es getroffen hat, ist Peter Spuhler, den Generalintendanten des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe, dem in einem offenen Brief „Kontrollzwang, beständiges Misstrauen, cholerische Anfälle“vorgeworfen wurde. Auch am Wiener Burgtheater warf die Belegschaft dem ehemaligen Direktor Matthias Hartmann vor, ein Klima der Angst verbreitet zu haben – begleitet von homophoben und sexistischen Witzen und Klapsen auf die Hintern von Mitarbeiterinnen.
In den meisten Fällen wird die Öffentlichkeit nie erfahren, was tatsächlich vorgefallen ist. Wahrscheinlich haben sich die Beschuldigten sogar kaum anders benommen als viele Regisseure und Intendanten früherer Generationen. Denn ein rauer Ton gehörte bislang dazu. Rainer Werner Fassbinder, als Genie des deutschen Films gefeiert, demütigte, tobte, schlug und brüllte gern mal „Ich bring’ dich um, ich schlitz’ dich auf!“. Auch der witzige und originelle Alfred Hitchcock entpuppte sich hinter den Kulissen als Widerling und Sadist. Wenn es heute über Martin Kusej heißt, er sei ein „großer Machtmensch und Herumbrüller“, so passt das ins Bild, das manche Regisseure sogar ganz offen kultivieren. Frank Castorf bezeichnet sich in Interviews gern als „Diktator“oder „Tyrann“, als sei das eine Art Gütesiegel.
Was in Schulen und Büros als Psychoterror oder Mobbing gilt, ist am Theater nicht nur geduldet, es wird häufig sogar als notwendig angesehen, um höchste Qualität hervorzubringen. Schauspieler, so lautete über Jahrzehnte die Devise, müssten gebrochen werden, um ihr wahres Können hervorzukitzeln. Caroline Peters, die in der Erfolgsserie „Mord mit Aussicht“die Kommissarin spielte, hat vor einiger Zeit offen bekannt, dass sie selbstverständlich psychische Gewalt am Theater und beim Film erlebt habe. Auch Sky du Mont hat zahlreiche Theaterrollen abgelehnt, weil er die Demütigungen nicht ertrug.
An den Schulen hat man sich längst verabschiedet von der schwarzen Pädagogik, die glaubte, dass man Kindern Mathematik erfolgreicher einprügelt als erklärt. Wenn es um Kunst geht, wird die Debatte aber schwierig, denn die Freiheit der Kunst ist eine große Errungenschaft demokratischer Gesellschaften. Legitimiert das aber Grenzüberschreitungen? Ist das Hervorbringen künstlerischer Leistung höher anzusetzen als die Werte und Rechte, auf die sich eine Gesellschaft geeinigt hat?
Erstaunlich ist, dass sich diese Frage ausgerechnet am Theater stellt, das sich als Ort der ästhetischen Bildung doch auf die Fahnen geschrieben hat, die Menschen zum Besseren zu erziehen. Abend für Abend werden auf den Bühnen machthungrige Monarchen und Politiker gestürzt und Stimmen erhoben für die Armen und Geknechteten. Vor dem Vorhang wird lautstark für Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz geworben – hinter den Kulissen scheint man es damit aber nicht immer so genau zu nehmen.
Dass Regisseure tatsächlich glauben, berechtigt den „Tyrannen“, „Diktator“oder „Monarchen“zu geben, hat mit einer – in der Theorie längst überkommenen – Vorstellung von Genie zu tun. Sie führt zurück in die Renaissance, als der Künstler vom Handwerker zum Schöpfer aufstieg, den man nun plötzlich dem Göttlichen näher wähnte als dem Menschlichen. Im 18. Jahrhundert erlebte der Geniebegriff einen wahren Siegeszug. Nicht nur Künstler, auch Wissenschaftler beanspruchten nun für sich, genialisch und höherwertig zu sein als andere.
In der Ästhetik ist der Geniebegriff längst verschwunden. Das, was eine Generation für Kunst hält, wird umfassender im Kontext sozialer und historischer Zusammenhänge betrachtet. Dabei mag es Kunstwerke geben, die Generationen oder Kulturen als besonders wertvoll bewerten, aber es ist fraglich, ob sich die
Qualität eines Werkes eins zu eins auf den Schöpfer übertragen lässt oder ob für Menschen nicht andere Kriterien anzusetzen sind als für ein Artefakt oder eine Inszenierung. Trotzdem jubelt der Kunstmarkt einzelne Künstlerinnen und Künstler in Millionengefilde hinauf. Und im Theater, wo sich der Wert eines Werkes meist nicht in barer Münze benennen lässt, kultiviert man das Genietum eben mit einem exzentrischen Lebensstil oder mit tyrannischem Gebaren. Zum Mythos Künstler gehört auch, dass Theaterleute gerne betonen, dass Kunst nicht Beruf, sondern Berufung sei, ein Begriff, der die Nähe zum Göttlichen herstellt.
Auch in Unternehmen oder Großküchen herrscht mitunter ein rauer Ton. Es ist unausweichlich, dass Menschen aneinander rasseln, zumal dann, wenn der Druck groß ist, die Zeit knapp oder wirtschaftliche Nöte einen allzu fest im Griff haben. Damit der Braten schmeckt, muss aber nicht zwangsläufig in der Küche gebrüllt werden. Auch wenn die Pyramiden in Ägypten von Sklaven unter verheerenden Bedingungen erbaut wurden, lässt sich daraus kein kausaler Zusammenhang ableiten zwischen architektonischer Qualität und Menschenrechtsverletzungen.
Frank Castorf hat einmal behauptet, er könne nur gut arbeiten, wenn er sich vorab „in Wut“bringe. „Wenn ich sehr harmonisch bin, sehr ausgeglichen, wird es Scheiße.“Damit erteilte er sich selbst einen Freibrief, sein Team wie ein Berserker quälen, Grenzen überschreiten zu dürfen, ja zu müssen, weil nur so ein neuer Geniestreich zu schaffen sei. Und weil die Welt – angeblich – danach lechzt, müssen Respekt und Würde vor der Bühnenpforte abgegeben werden.
Die Frage, ob das Theater wirklich seine Qualität einbüßt, wenn die Beteiligten sich gegenseitig respektvoll behandeln, lässt sich mit einem klaren Nein beantworten. Mag sein, dass Fassbinder nur kreativ sein konnte, wenn er bis zu den Ohren zugedröhnt und völlig enthemmt war. Vielleicht wären seine Filme aber noch besser geraten, wenn er zwischendurch mit klarem Verstand auf sie geschaut hätte. Die Schauspielschulen haben das „Brechen“längst aus ihren Lehrplänen gestrichen und setzen auf mündige Schauspielerinnen und Schauspieler, weil sie neue Theaterformate häufig auch inhaltlich mitentwickeln.
Auch in der Oper gibt es hervorragende Produktionen, obwohl den Sängerinnen und Sängern strenge Ruhezeiten gewährt werden müssen und Orchester und Chöre starke Gewerkschaften im Rücken haben. Tiere dürfen übrigens schon lange nicht mehr auf der Bühne gequält oder gar geschlachtet werden – und das Theater kommt ohne solche Quälereien trotzdem sehr gut zurecht.