Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wald wirkt
Waldbaden soll Killerzellen stärken, Stress abbauen und den Blutdruck senken
Leicht zu finden ist der Kraftort nicht. Ein schmaler Trampelpfad führt durch einen grünen Tunnel aus Büschen und Bäumen. „Willkommen auf der Lichtung“, sagt Gerold Gerber schließlich. Der Mann mit den Wolkenhänden, wie Gerber sich auf seiner Homepage selbst bezeichnet, steht in schwarzen Pluderhosen und blauem T-shirt vor der Gruppe. Seit gut 15 Jahren praktiziert er als Qigong-lehrer. Seine Spezialität: eine Art Mischung aus Waldbaden und Qigong. „Beim echten Waldbaden geht man viel langsamer durch den Wald als üblich. Fast schon schneckenhaft“, erklärt Gerber und greift mit seinen großen Händen nach vorne, mimt eine schleichende Katze. Die Gruppe lacht. Katzenhaft ist keiner von uns unterwegs. Dafür halten wir immer wieder an und machen brav unsere Qigong-übungen. Achtsam natürlich. Sonst könnte man genauso gut bloß spazieren gehen.
Unter den Teilnehmern an diesem Morgen vor der Pandemie ist eine treue Fangemeinde, die auf die chinesischen Meditations- und Bewegungsübungen schwört. Krankenschwester Felisa zum Beispiel. Sie hat schon viel versucht, um mit dem Stress in der Klinik und der körperlichen Arbeit zurechtzukommen. Vom Fitnessstudio bis Yoga. Nichts habe ihr so geholfen wie Qigong im
Wald. Ebenfalls beim Waldbaden mit dabei ist eine französische Wellnessexpertin, die eigens aus Paris an den Bodensee gereist ist, um über den Trend zu berichten. Die Natur als Ressource? Für Franzosen sei das etwas völlig Neues.
Dabei ist die Kraft der Natur auch in Deutschland eigentlich ein alter Hut. Schon Hildegard von Bingen beschwor die Grünkraft des Waldes. Und auch der gute, alte Sebastian Kneipp sah nach dem Waten durchs kalte Wasser auch noch einen Waldgang vor, sagt Jasmin Schlimmthierjung, Leiterin der 2018 gegründeten Deutschen Akademie für Waldbaden. 1300 Teilnehmer haben sich dort in den vergangenen Jahren ausbilden lassen. In sechs Tagen kann man sich zum Kursleiter Waldbaden oder Naturresilienz-trainer ausbilden lassen.
In den Seminaren werden nicht nur die Heilkraft des Waldes vermittelt, sondern auch unterschiedliche Entspannungstechniken gelehrt. Die Nachfrage war auch im Pandemiejahr 2020 ungebrochen, erzählt Jasmin Schlimm-thierjung. Gerade die Kontaktbeschränkungen hätten die Menschen dazu gebracht, die Wälder neu zu entdecken. „Waldbaden ist kein Hokuspokus, sondern wird sich genau wie Yoga etablieren“, sagt die Akademieleiterin. Das Kursangebot wird bereits von den Krankenkassen anerkannt. Die Kosten für einen Kurs beim zertifizierten Waldtherapeuten werden übernommen, und Kliniken können spezielle Weiterbildungskurse für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter buchen.
In Deutschland ist die Akzeptanz von Dr. Wald als Therapeuten noch deutlich steigerungsfähig. Doch in Japan wurden die positiven Gesundheitseffekte des Shinrin Yoku – wie Waldbaden auf Japanisch heißt – bereits in den 1980er-jahren erforscht. Schon damals ließ sich nachweisen, dass das bewusste Eintauchen in den Wald den Blutdruck senkt, den Herzschlag verlangsamt und die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol senkt. Die Japaner beschreiben sogar eine messbare Zunahme von sogenannten körpereigenen Killerzellen, die für die Bekämpfung von Krebszellen zuständig sind. Eine entscheidende Rolle spielen dafür die sogenannten Terpene, die vor allem Nadelbäume ausdünsten. Mit den Stoffen kommunizieren die Bäume untereinander und warnen sich zum Beispiel vor Schädlingsbefall. Studien zufolge soll bereits ein halber Tag im Wald eine Vermehrung und Aktivitätssteigerung der Killerzellen im Körper bewirken.
Mittlerweile gibt es sogar spezielle Heilwälder. So wurde auf der Ostseeinsel Usedom Europas erster
Heilwald gegründet. Und der Bayerische Heilbäderverband will in Zusammenarbeit mit der Ludwigs-maximilians-universität in München (LMU) auch im Freistaat Heilwälder einrichten. Demnächst soll ein entsprechendes Handbuch für Kur- und Heilwälder vorliegen. „Walderlebnisse hellen die psychische Stimmung auf, wecken positive Emotionen, reduzieren Stress, senken den Blutdruck und verbessern die Schlafqualität“, sagte auch Angela Schuh, die den Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung an der LMU inne hat.
Auch Baden-württemberg lotet das Potenzial aus. Vor allem Schwarzwald-gemeinden zeigen sich interessiert. Die erste badenwürttembergische Studie, an der die Universitäten Tübingen und Freiburg sowie die Hochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg beteiligt waren, bestätigt, dass Waldbaden nachweislich positive Effekte auf das Wohlbefinden hat. Bei allen Probanden hätten Achtsamkeitsübungen im
Wald zu einer Verminderung des Stresshormons Cortisol geführt, erklärt der Heilbäderverband Badenwürttemberg. Zum Vergleich wurden alle Übungen in Innenräumen wiederholt – die Effekte auf den Körper waren deutlich geringer. Interessant dabei: Stress wurde besser im Nadelwald abgebaut; im Mischwald war dafür die Entspannung größer. Jürgen Kreuzwieser von der Uni Freiburg hat die Konzentration der Terpene gemessen. Das Ergebnis: Am meisten Terpene konnte er nachweisen, als Fichtenzweige in ein Zimmer gelegt worden sind. Daraus ließe sich folgern, dass auch Indoorwaldbaden Sinn macht – etwa an Kliniken für bettlägrige Patienten.
Angebote zum Waldbaden gibt es für Firmen, für Singles, für Familien mit Kindern und Großeltern. Auch Online-kurse werden angeboten. Denn auch wenn der Bedarf beim hohen Stresspegel in Pandemie-zeiten hoch ist, live Waldbaden ist aufgrund der Corona-regeln derzeit nach wie vor nicht möglich, sagt Gerold Gerber. Er hofft, spätestens im Mai wieder mit Gruppen durch den Wald tigern zu können.