Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Erdogan bittet die Türken um ihr Erspartes

Eindringli­cher Appell des Präsidente­n beim Kongress der Regierungs­partei AKP – Opposition kritisiert Konzeptlos­igkeit

- Von Susanne Güsten

- Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mit einer umstritten­en Personalen­tscheidung gerade einen Absturz der Landeswähr­ung und der Börsenkurs­e verursacht – jetzt bittet er die Türken um Geld, um die Wirtschaft wieder flottzumac­hen. Die Bürger sollten ihre Ersparniss­e in harter Währung und Gold nicht zu Hause horten, sondern auf die Bank bringen, sagte Erdogan am Mittwoch beim Parteitag seiner Regierungs­partei AKP in Ankara.

Die Türken haben Ersparniss­e von mehr als 230 Milliarden Dollar in Dollar, Euro und Gold umgewandel­t, um sie vor der Entwertung der Lira in Sicherheit zu bringen. Dass sie ihr Vermögen jetzt zur Bank tragen, ist nicht zu erwarten. Erdogans Appell offenbarte nach Ansicht von Opposition­smedien die Konzeptlos­igkeit einer Regierungs­partei im Abwärtstre­nd, der spätestens in zwei Jahren Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en bevorstehe­n.

Erdogan hatte am Wochenende die Finanzmärk­te in Aufruhr versetzt, indem er Zentralban­kchef Naci Agbal wegen einer Zinserhöhu­ng feuerte und durch einen regierungs­treuen Banker ersetzte. Seitdem hat die Lira rund acht Prozent an Wert verloren, die Börsenkurs­e in Istanbul rauschten nach unten. Beim Parteitag lobte Erdogan seine Wirtschaft­spolitik und sagte, nun sei es Zeit, „Gas zu geben“. Die Turbulenze­n der vergangene­n Tage spielte er herunter.

Mit dem Parteitags­motto „Vertrauen und Stabilität“wollte Erdogan die AKP auf den kommenden Wahlkampf einstellen. Nach Ansicht einiger Experten könnte der 67-jährige Präsident trotz schlechter Umfragewer­te vorzeitige Neuwahlen ausrufen: Die regierungs­treue Justiz hat ein Verbotsver­fahren gegen die Kurdenpart­ei HDP eingeleite­t, die drittstärk­ste politische Kraft mit sechs Millionen Wählern. Damit steigt der Druck auf die Opposition.

Im außenpolit­ischen Teil seiner Rede erneuerte Erdogan das Verspreche­n, die Türkei werde nach einer Phase der internatio­nalen Isolation wieder mehr Freunde gewinnen und die Weltregion zu einer „Insel der Ruhe“machen. Ähnliche Verspreche­n

hatte Erdogan bereits im November gemacht. Zuletzt bemühte er sich um einen Neuanfang in den Beziehunge­n zu Ägypten. Bisher haben sich daraus jedoch keine konkreten Veränderun­gen ergeben. Beim Parteitag grüßte Erdogan seine Anhänger erneut mit dem sogenannte­n Rabia-handzeiche­n, einem Ausdruck des Protests gegen den ägyptische­n Staatschef Abdel Fattah alsisi.

Auch im schwierige­n Verhältnis zu den USA zeichnet sich keine Besserung ab. Erdogans Außenminis­ter

Mevlüt Cavusoglu traf sich am Rande der Nato-außenminis­tertagung in Brüssel am Mittwoch mit seinem neuen amerikanis­chen Kollegen Antony Blinken. Dieser rief die Türkei auf, das russische Flugabwehr­system S-400 wieder aus den Arsenalen zu entfernen. Die USA und Europa werfen der Türkei vor, mit dem russischen System die Luftvertei­digung der NATO zu schwächen und Russland die Möglichkei­t zu geben, westliche Waffen wie den neuen Uskampfjet F-35 auszuspion­ieren.

Cavusoglu wies Blinkens Forderung jedoch zurück. Der Kauf der S-400 sei abgeschlos­sen, sagte der türkische Minister nach dem Treffen mit Blinken. Damit ist eine türkischam­erikanisch­e Annäherung bis auf Weiteres ausgeschlo­ssen, denn nach Aussagen von Us-regierungs­vertretern ist eine Verständig­ung mit der Türkei unmöglich, solange der Nato-partner die russischen Raketen behält.

Blinken kritisiert­e zudem den Austritt der Türkei aus dem Frauenrech­tsabkommen des Europarats, den Erdogan ebenfalls am Wochenende verkündet hatte. Der Präsident will damit nationalis­tische und islamistis­che Wähler für sich gewinnen. In seiner Parteitags­rede beklagte Erdogan, dass die Türken immer später heiraten und immer weniger Kinder bekommen. Regierungs­gegner machen dafür allerdings die schlechte wirtschaft­liche Lage verantwort­lich, die es vielen Bürgern nicht erlaubt, einen eigenen Hausstand zu gründen. Die Jugendarbe­itslosigke­it in der Türkei liegt nach offizielle­n Angaben bei 25 Prozent.

Die regierungs­kritische Zeitung „Birgün“bilanziert­e in ihrer Onlineausg­abe, Erdogan habe vor dem Parteitag ein Manifest für die kommenden Jahre angekündig­t, in seiner Rede aber keine neuen Projekte präsentier­t. Auch wegen der Missachtun­g von Corona-auflagen bei dem Kongress in einer Sporthalle in Ankara gab es Kritik. Obwohl die Türkei täglich mehr als 25 000 Neuinfekti­onen verzeichne­t und Massenvera­nstaltunge­n verboten sind, drängten sich Tausende Delegierte in der Halle und viele Zuschauer vor den Toren. In den vergangene­n Wochen hatten Provinzpar­teitage der AKP in mehreren Landesteil­en die örtlichen Infektions­zahlen in die Höhe getrieben. Weil die Regierungs­partei die Gesundheit­sbehörden und die Justiz kontrollie­rt, hat sie trotz der Verstöße keine Konsequenz­en zu befürchten.

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FOTO: ADEM ALTAN/AFP War da was? Recep Tayyip Erdogan will in Sachen Wirtschaft „Gas geben“– die jüngsten Turbulenze­n spielte er herunter.

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