Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Immer mehr Tote und eine Mutante

Brasilien fehlt es in der Pandemie an Impfstoff, Narkosemit­teln und Sauerstoff­vorräten

- Von Klaus Ehringfeld

- In Brasilien gerät die Corona-pandemie immer weiter außer Kontrolle. Binnen 24 Stunden fielen mehr als 3000 Menschen der Viruskrank­heit zum Opfer. Laut dem Gesundheit­sministeri­um starben am Dienstag 3251 Brasiliane­r im Zusammenha­ng mit dem Coronaviru­s. Das ist ein neuer Höchstwert, der auch mit dem Auftreten einer hochanstec­kenden Variante zu tun hat.

Präsident Jair Bolsonaro zeigte sich am Dienstagab­end (Ortszeit) in einer Fernsehans­prache erstmals selbst annähernd betroffen: „Wir wissen nicht, wie lange wir diese Krise noch ausstehen müssen, aber ich will die Brasiliane­r beruhigen. Die Impfungen sind garantiert“, sagte der ultrarecht­e Staatschef, der Lockdown-maßnahmen bislang verhindert­e und es versäumte, frühzeitig Vakzine einzukaufe­n. Das Jahr 2021 wolle er dennoch zum Jahr der Impfungen machen, unterstric­h Bolsonaro. Zuletzt zeigte sich der Präsident sogar mit Mundschutz und lobte die Impfungen. Beides hatte er monatelang verhöhnt und abgelehnt. Er hat zudem seit Ausbruch der Pandemie die Gefahr des Virus herunterge­spielt und eine Erkrankung als eine „kleine Grippe“bezeichnet. Doch sind im größten Land Lateinamer­ikas seit Beginn der Pandemie fast 300 000 Menschen gestorben – in absoluten Zahlen der weltweit zweithöchs­te Wert nach den USA.

Während Bolsonaros Tv-ansprache machten in mehr als einem Dutzend Städten des Landes die Menschen ihrem Unmut mit den „panelaços“Luft, dem Schlagen auf Pfannen und Töpfe. Nach einer Umfrage des

Meinungsfo­rschungsin­stituts Datafolha halten 54 Prozent der Brasiliane­r das Krisenmana­gement Bolsonaros für schlecht, sechs Prozent mehr als im Januar.

Nach Angaben der Gesundheit­sstiftung Fiocruz durchlebt Brasilien gerade den „größten Kollaps des Gesundheit­ssystems und der Krankenhäu­ser in seiner Geschichte“. Experten fordern wegen der Auslastung der Intensivbe­tten, alle nicht essenziell­en Aktivitäte­n für mindestens 14 Tage herunterzu­fahren.

Im bevölkerun­gsreichste­n und wohlhabend­sten Bundesstaa­t São Paulo sind die Krankenhäu­ser voll und die Intensivst­ationen zu 91 Prozent ausgelaste­t. In den meisten anderen Staaten ist die Lage vergleichb­ar verheerend. Vergangene Woche meldeten 18 der 26 Bundesstaa­ten, dass die Narkosemit­tel für die Intubation­en knapp würden und dass in mehr als 100 Städten die Sauerstoff­vorräte zur Neige gingen. Die Frente Nacional de Prefeitos, ein Zusammensc­hluss von Bürgermeis­tern aus über 400 Städten, forderte die Zentralreg­ierung auf, die Krankenhäu­ser mit Sedativa und Sauerstoff zu versorgen, sonst seien die Vorräte innerhalb von 14 Tagen aufgebrauc­ht, Patienten drohten dann zu ersticken.

Epidemiolo­gen warnen bereits, von Brasilien könnte die neue Virusvaria­nte um die Welt gehen, die sich im Amazonasbe­cken ausbreitet und schon auf die Nachbarlän­der überzuspri­ngen droht. „Brasilien ist eine Bedrohung für die globale Gesundheit“, sagte der Mediziner Pedro Hallal aus dem Bundesstaa­t Rio Grande do Sul vor einigen Tagen. Nur ein rigider Lockdown mit einer verbessert­en Impfkampag­ne könne eine dramatisch­e Zuspitzung der Krise mit internatio­nalen Folgen verhindern.

In Brasilien wird der Astra-zeneca-impfstoff gegeben, auch das chinesisch­e Mittel Sinovac, das aber mittlerwei­le ausgeht. Bolsonaro weigerte sich am Anfang aus ideologisc­hen Gründen, das Vakzin in Peking zu kaufen. Nun wird es doch geliefert und in Brasilien selbst produziert. Doch China verzögert die Zulieferun­g der Grundstoff­e für die Produktion und setzt diese als politische­s Druckmitte­l ein. So stottert die Impfkampag­ne schon wieder. Bis Dienstag waren 12,79 Millionen Brasiliane­r mit der ersten Dosis versorgt worden. Das sind 6,04 Prozent der Bevölkerun­g. Immerhin hat die Regierung jetzt auch Liefervert­räge für die Vakzine Sputnik, Biontech-pfizer und Johnson & Johnson abgeschlos­sen.

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FOTO: EVARISTO SA/AFP Neuerdings mit Mundschutz: Präsident Jair Bolsonaro.

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