Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Das Nadelöhr der Weltwirtschaft
Was die Havarie des Frachters „Ever Given“im Suezkanal für die globalen Lieferketten und die deutsche Industrie bedeutet
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FRANKFURT - Ein Sandsturm, schlechte Sicht und eine wässrige Einbahnstraße inmitten der Wüste: Mehr braucht es nicht, um eine der Pulsadern der Weltwirtschaft zu blockieren. Der Containerfrachter „Ever Given“ist am Dienstag wie ein Wal im Suezkanal gestrandet. Mit Bug und Heck ist er an gegenüberliegenden Ufern auf Grund gelaufen: eine komplette Barriere, an der kein anderes Schiff mehr vorbeikommt. Ausgerechnet auf einer der einspurigen Passagen des Kanals hat das Schiff die Orientierung verloren und sich verkeilt. Nun versuchen Bagger aus den Ufern des Kanals Stücke herauszubeißen, um die „Ever Given“wieder flott zu kriegen. Schwimmende Kräne pulen mit ihren Schaufeln in der Fahrrinne herum, damit das Schiff mehr Wasser unter den Kiel bekommt. Neben einem Meeresungeheuer gleichkommenden Riesenschiff sehen Kräne und Bagger wie Spielzeuge aus.
Denn die „Ever Given“ist nicht irgendein, sie ist eines der größten Containerschiffe der Welt: 400 Meter ist der Koloss lang, 60 Meter ist er breit. Darauf hätten der Länge nach fast vier Fußballfelder Platz. Schlepper zerren mit aller Kraft ihrer schweren Dieselmotoren an dem Ungetüm, um den Verkehr durch das Nadelöhr wieder in Fluss zu bringen. Bislang ohne Erfolg. Sollte das Freischaufeln und Schleppen nicht gelingen, droht ein Desaster. Denn das Schiff hat rund 20 000 Container geladen. Wenn auch nur ein Teil von ihnen mitten in der Wüste vom Schiff geladen werden muss, um die „Ever Given“leichter zu machen, dürfte das Wochen dauern.
Schon jetzt hat sich ein Stau von mehr als 200 Containerschiffen südlich und nördlich der Unglücksstelle gebildet. Der Verband Deutscher Reeder warnt vor den möglichen Auswirkungen, sollte die Blockade länger dauern. „Das ist wie die Vollsperrung einer großen deutschen Autobahn. Je länger das dauert, desto deutlicher werden die Auswirkungen zu sehen sein“, sagte ein Sprecher. Das Bild ist richtig gezeichnet, es hängt aber schief. Doch dazu später. Denn zunächst stockt mit dem Stau ein beträchtlicher Teil des Welthandels: zehn bis 15 Prozent des weltweiten Containerfracht-schiffsverkehrs passiert laut Handelsexperten den Suezkanal.
In Zahlen sieht das so aus: Jährlich befahren 19 000 Schiffe die 200 Kilometer Abkürzung zwischen Rotem Meer und Mittelmeer. Das sind rund 50 an jedem Tag des Jahres, die insgesamt eine Milliarde Tonnen Fracht durch den Suezkanal schleusen. „Es fängt an bei Plüschtieren, geht über Handys, Drucker und andere elektronische Geräte. In den Schiffscontainern sind Maschinen drin, Kleidung oder auch Möbel. Sogar Autos passieren auf speziellen Frachtern den Suezkanal“, erläutert die Volkswirtin Gabriele Widmann von der Deka Bank. Sie macht damit fassbar, was im Suezkanal alles gerade feststeckt. Die schnöden Zahlen dagegen stammen von der den Kanal betreibenden Behörde Suez Canal Authority. Sie muss es wissen. Schließlich kassiert sie für jede Durchfahrt eine Art Mautgebühr. Die liegt im Schnitt bei rund einer viertel Million Euro. Im vergangenen Jahr hat die Behörde von den Reedereien fast sechs Milliarden Dollar kassiert – eine wichtige Einnahmequelle des ägyptischen Staates.
Für Deutschland, so rechnen die Ökonomen des Kieler Institutes für Weltwirtschaft (IFW), liegt der Anteil aller durch den Suezkanal schwimmenden Ex- und Importe bei acht bis neun Prozent. Insbesondere Geschäfte mit dem wichtigsten Handelspartner Deutschlands sind betroffen: Aus China zwängen sich rund zwei Drittel aller Waren durch den Kanal, das übrige Drittel ist Luftfracht. „Wenn diese Havarie innerhalb der nächsten Tage nicht behoben und Schiffe nicht mehr durch den Suezkanal fahren können, kann das durchaus zu Problemen auch bei Lieferketten in Deutschland führen“, sagte Ifw-handelsexperte Vincent Stamer der „Schwäbischen Zeitung“. Laut seinen Berechnungen fahren 98 Prozent, also fast alle Schiffe zwischen China und Deutschland, durch den Suezkanal.
Während sich im Stau der Kolosse der industrialisierten Schifffahrt nichts mehr bewegt, ist an den Finanzmärkten
einiges in Bewegung geraten: Am Mittwoch kletterte der Ölpreis deutlich. Zwar beruhigte sich die Lage am Donnerstag wieder etwas, doch ging es zum Wochenausklang weiter nach oben mit den Ölpreisen. Denn auch ein großer Teil an Energie für den Welthandel fährt in den Bäuchen der Supertanker durch die Wasserstraße: Um nach Europa und Nordamerika zu gelangen, schippert das meiste Öl aus dem Nahen beziehungsweise Mittleren Osten durch den Kanal.
Diese geografische Lage macht den Suezkanal zu einer Achillesferse für die Weltwirtschaft: Es gibt keine wirkliche Ausweichroute. Deswegen trifft das vorher gezeichnete Bild der vollgesperrten Autobahn zwar den gigantischen Stau und seine Wirkung. Nur lässt sich ein Stau auf der Autobahn
vergleichsweise einfach korrigieren – durch Umleitung des Verkehrs. Beim Suezkanal ist das ein etwas größeres Problem.
Denn die Umleitung würde einmal um Afrika herumführen – eine Strecke von mindestens 6000 Kilometern. Die meisten Schiffe der Welthandelsflotte sind plusminus zehn Tage länger unterwegs, wenn sie den Weg um das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze des afrikanischen Kontinentes wählen. Aus diesem Grund wird der Stau im Kanal auch immer länger. Es ist die gute Hoffnung, dass er sich bald auflöst. Allerdings hat diese Hoffnung einen Dämpfer bekommen. „Wir können nicht ausschließen, dass es noch Wochen dauern könnte“, sagte der Chef der an den Bergungsarbeiten beteiligten Firma Bos, Peter Berdowski im niederländischen Fernsehen. Genährt wird diese Hoffnung dagegen durch die ägyptische Regierung und die Kanalbehörde. Die sagen, es handele sich nur noch um höchstens zwei bis drei Tage, bis der Konvoi des Warenstroms wieder in die Gänge kommen kann.
Das würde zu einem Aufatmen auch in der hiesigen Wirtschaft führen. Denn schon jetzt rechnen Logistiker – selbst wenn der Suez-verkehr wieder fließt – mit wochenlangen Problemen in deutschen Häfen. Auch der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zeigt sich beunruhigt: „Zentrale Lieferketten geraten aufgrund mangelnder Container, unpünktlicher Schiffe und fehlender Transportkapazität ins Stocken, während die Kosten steigen“, sagte Holger Lösch. „Dies wirkt sich in der Industrie bereits negativ auf die Produktionsabläufe aus.“
Die Blockade trifft die sich von der Corona-krise erholende Weltwirtschaft zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Denn Nachfrage, Handel und der globale Austausch von Waren und Produkten zieht deutlich an. Und trifft auf eine Logistik-branche, die in der Krise geschrumpft ist, sprich: Es herrscht derzeit ohnehin ein Mangel an Container- und Transportkapazitäten. Der Fall zeigt einmal mehr, wie empfindlich die globalen Lieferketten sind: Schon die Havarie eines einzigen Schiffes reicht aus, um eine Pulsader der Weltwirtschaft zu verstopfen.