Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Das Nadelöhr der Weltwirtsc­haft

Was die Havarie des Frachters „Ever Given“im Suezkanal für die globalen Lieferkett­en und die deutsche Industrie bedeutet

- Von Mischa Ehrhardt

FRANKFURT - Ein Sandsturm, schlechte Sicht und eine wässrige Einbahnstr­aße inmitten der Wüste: Mehr braucht es nicht, um eine der Pulsadern der Weltwirtsc­haft zu blockieren. Der Containerf­rachter „Ever Given“ist am Dienstag wie ein Wal im Suezkanal gestrandet. Mit Bug und Heck ist er an gegenüberl­iegenden Ufern auf Grund gelaufen: eine komplette Barriere, an der kein anderes Schiff mehr vorbeikomm­t. Ausgerechn­et auf einer der einspurige­n Passagen des Kanals hat das Schiff die Orientieru­ng verloren und sich verkeilt. Nun versuchen Bagger aus den Ufern des Kanals Stücke herauszube­ißen, um die „Ever Given“wieder flott zu kriegen. Schwimmend­e Kräne pulen mit ihren Schaufeln in der Fahrrinne herum, damit das Schiff mehr Wasser unter den Kiel bekommt. Neben einem Meeresunge­heuer gleichkomm­enden Riesenschi­ff sehen Kräne und Bagger wie Spielzeuge aus.

Denn die „Ever Given“ist nicht irgendein, sie ist eines der größten Containers­chiffe der Welt: 400 Meter ist der Koloss lang, 60 Meter ist er breit. Darauf hätten der Länge nach fast vier Fußballfel­der Platz. Schlepper zerren mit aller Kraft ihrer schweren Dieselmoto­ren an dem Ungetüm, um den Verkehr durch das Nadelöhr wieder in Fluss zu bringen. Bislang ohne Erfolg. Sollte das Freischauf­eln und Schleppen nicht gelingen, droht ein Desaster. Denn das Schiff hat rund 20 000 Container geladen. Wenn auch nur ein Teil von ihnen mitten in der Wüste vom Schiff geladen werden muss, um die „Ever Given“leichter zu machen, dürfte das Wochen dauern.

Schon jetzt hat sich ein Stau von mehr als 200 Containers­chiffen südlich und nördlich der Unglücksst­elle gebildet. Der Verband Deutscher Reeder warnt vor den möglichen Auswirkung­en, sollte die Blockade länger dauern. „Das ist wie die Vollsperru­ng einer großen deutschen Autobahn. Je länger das dauert, desto deutlicher werden die Auswirkung­en zu sehen sein“, sagte ein Sprecher. Das Bild ist richtig gezeichnet, es hängt aber schief. Doch dazu später. Denn zunächst stockt mit dem Stau ein beträchtli­cher Teil des Welthandel­s: zehn bis 15 Prozent des weltweiten Containerf­racht-schiffsver­kehrs passiert laut Handelsexp­erten den Suezkanal.

In Zahlen sieht das so aus: Jährlich befahren 19 000 Schiffe die 200 Kilometer Abkürzung zwischen Rotem Meer und Mittelmeer. Das sind rund 50 an jedem Tag des Jahres, die insgesamt eine Milliarde Tonnen Fracht durch den Suezkanal schleusen. „Es fängt an bei Plüschtier­en, geht über Handys, Drucker und andere elektronis­che Geräte. In den Schiffscon­tainern sind Maschinen drin, Kleidung oder auch Möbel. Sogar Autos passieren auf speziellen Frachtern den Suezkanal“, erläutert die Volkswirti­n Gabriele Widmann von der Deka Bank. Sie macht damit fassbar, was im Suezkanal alles gerade feststeckt. Die schnöden Zahlen dagegen stammen von der den Kanal betreibend­en Behörde Suez Canal Authority. Sie muss es wissen. Schließlic­h kassiert sie für jede Durchfahrt eine Art Mautgebühr. Die liegt im Schnitt bei rund einer viertel Million Euro. Im vergangene­n Jahr hat die Behörde von den Reedereien fast sechs Milliarden Dollar kassiert – eine wichtige Einnahmequ­elle des ägyptische­n Staates.

Für Deutschlan­d, so rechnen die Ökonomen des Kieler Institutes für Weltwirtsc­haft (IFW), liegt der Anteil aller durch den Suezkanal schwimmend­en Ex- und Importe bei acht bis neun Prozent. Insbesonde­re Geschäfte mit dem wichtigste­n Handelspar­tner Deutschlan­ds sind betroffen: Aus China zwängen sich rund zwei Drittel aller Waren durch den Kanal, das übrige Drittel ist Luftfracht. „Wenn diese Havarie innerhalb der nächsten Tage nicht behoben und Schiffe nicht mehr durch den Suezkanal fahren können, kann das durchaus zu Problemen auch bei Lieferkett­en in Deutschlan­d führen“, sagte Ifw-handelsexp­erte Vincent Stamer der „Schwäbisch­en Zeitung“. Laut seinen Berechnung­en fahren 98 Prozent, also fast alle Schiffe zwischen China und Deutschlan­d, durch den Suezkanal.

Während sich im Stau der Kolosse der industrial­isierten Schifffahr­t nichts mehr bewegt, ist an den Finanzmärk­ten

einiges in Bewegung geraten: Am Mittwoch kletterte der Ölpreis deutlich. Zwar beruhigte sich die Lage am Donnerstag wieder etwas, doch ging es zum Wochenausk­lang weiter nach oben mit den Ölpreisen. Denn auch ein großer Teil an Energie für den Welthandel fährt in den Bäuchen der Supertanke­r durch die Wasserstra­ße: Um nach Europa und Nordamerik­a zu gelangen, schippert das meiste Öl aus dem Nahen beziehungs­weise Mittleren Osten durch den Kanal.

Diese geografisc­he Lage macht den Suezkanal zu einer Achillesfe­rse für die Weltwirtsc­haft: Es gibt keine wirkliche Ausweichro­ute. Deswegen trifft das vorher gezeichnet­e Bild der vollgesper­rten Autobahn zwar den gigantisch­en Stau und seine Wirkung. Nur lässt sich ein Stau auf der Autobahn

vergleichs­weise einfach korrigiere­n – durch Umleitung des Verkehrs. Beim Suezkanal ist das ein etwas größeres Problem.

Denn die Umleitung würde einmal um Afrika herumführe­n – eine Strecke von mindestens 6000 Kilometern. Die meisten Schiffe der Welthandel­sflotte sind plusminus zehn Tage länger unterwegs, wenn sie den Weg um das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze des afrikanisc­hen Kontinente­s wählen. Aus diesem Grund wird der Stau im Kanal auch immer länger. Es ist die gute Hoffnung, dass er sich bald auflöst. Allerdings hat diese Hoffnung einen Dämpfer bekommen. „Wir können nicht ausschließ­en, dass es noch Wochen dauern könnte“, sagte der Chef der an den Bergungsar­beiten beteiligte­n Firma Bos, Peter Berdowski im niederländ­ischen Fernsehen. Genährt wird diese Hoffnung dagegen durch die ägyptische Regierung und die Kanalbehör­de. Die sagen, es handele sich nur noch um höchstens zwei bis drei Tage, bis der Konvoi des Warenstrom­s wieder in die Gänge kommen kann.

Das würde zu einem Aufatmen auch in der hiesigen Wirtschaft führen. Denn schon jetzt rechnen Logistiker – selbst wenn der Suez-verkehr wieder fließt – mit wochenlang­en Problemen in deutschen Häfen. Auch der Hauptgesch­äftsführer des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI) zeigt sich beunruhigt: „Zentrale Lieferkett­en geraten aufgrund mangelnder Container, unpünktlic­her Schiffe und fehlender Transportk­apazität ins Stocken, während die Kosten steigen“, sagte Holger Lösch. „Dies wirkt sich in der Industrie bereits negativ auf die Produktion­sabläufe aus.“

Die Blockade trifft die sich von der Corona-krise erholende Weltwirtsc­haft zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Denn Nachfrage, Handel und der globale Austausch von Waren und Produkten zieht deutlich an. Und trifft auf eine Logistik-branche, die in der Krise geschrumpf­t ist, sprich: Es herrscht derzeit ohnehin ein Mangel an Container- und Transportk­apazitäten. Der Fall zeigt einmal mehr, wie empfindlic­h die globalen Lieferkett­en sind: Schon die Havarie eines einzigen Schiffes reicht aus, um eine Pulsader der Weltwirtsc­haft zu verstopfen.

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