Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Corona verändert Trauerrituale
In Pandemie-zeiten erscheint Trauern noch einsamer – Auf diesen Wegen lässt sich dennoch Nähe schaffen
(dpa) Selten war der Tod im Alltag so präsent wie in den vergangenen Monaten: Jeden Tag wird in den Nachrichten berichtet, wie viele Menschen an Covid-19 gestorben sind. Als André Schneiders (Name geändert) Vater am 9. Dezember 2020 auf der Intensivstation starb, hatte diese Zahl einen neuen Rekord erreicht.
Doch wie gehen Menschen damit um, wenn sie aufgrund der Reiseund Kontaktbeschränkungen womöglich nicht mehr Abschied nehmen konnten? Wie kann man gemeinsam trauern, wenn Umarmungen und Leichenschmaus nicht möglich sind?
Schneiders Vater wurde Ende Oktober positiv auf Corona getestet und kam ins Krankenhaus, auf die Normalstation. Er war kurzatmig, der Sauerstoffgehalt wurde immer niedriger, es waren nur kurze Telefonate möglich. Die Ärzte drängten auf eine Verlegung auf die Intensivstation. Schlussendlich stimmte der 68-Jährige zu und sagte seiner Familie: „Ich will leben.“
Er kam auf die Intensivstation, wurde ins Koma versetzt und künstlich beatmet. Die Angehörigen konnten jetzt nur noch mit den Ärzten telefonieren. „Es war ein Auf und Ab“, erzählt Schneider: Stieg der Sauerstoffgehalt im Blut, stieg die Erwartung; sank der Sauerstoffgehalt, sank auch die Hoffnung.
„Es ist aktuell deutlich schwieriger, Menschen im Sterbeprozess zu begleiten“, sagt Bestatter und Kulturwissenschaftler Jan Möllers. Krankenbesuche sind meist nur noch sehr eingeschränkt möglich und auch die Angehörigen können sich nicht so einfach persönlich treffen, um zu reden und das weitere Vorgehen zu planen. Gleichzeitig beobachtet der Berliner Bestatter, wie Menschen neue Wege finden, um den Abschied zu gestalten.
Wenn ein Besuch im Krankenhaus oder Hospiz nicht mehr möglich ist, können Angehörige etwa das Pflegepersonal bitten, den Telefonhörer neben den Sterbenden zu legen, um noch einmal zu ihm zu sprechen. Man könne auch einen Brief schreiben, mit allem, was man gerne noch angesprochen hätte, schlägt die Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-rupieper vor. Diesen Brief könne man dem Sterbenden unter das Kopfkissen oder später in den Sarg legen lassen oder verbrennen – denn auch symbolische Nähe sei wichtig.
Diese symbolische Verbundenheit spielt aktuell auch bei der Bestattung eine wichtige Rolle, denn: „Bestattungen haben sich in Zeiten der Corona-krise grundlegend verändert“, sagt Elke Herrnberger vom Bundesverband der Bestatter. Teilnehmerzahlen sind stark begrenzt, Sicherheitsabstände müssen eingehalten werden. Die genauen Regeln bestimmen die Länder.
Dennoch stellt die limitierte Personenzahl viele Familien vor eine schmerzhafte Entscheidung, sagt Bestatter
Möllers: Wen lade man ein und wer dürfe nicht an der Zeremonie teilnehmen? Damit Zugehörige, die nicht zur Beerdigung kommen können, dennoch am Abschied teilhaben können, werden oft Livestreams oder Erinnerungsvideos von der Bestattung gemacht.
Manche fügen der Trauerkarte auch einen genauen Zeitplan der Beerdigung bei, damit beispielsweise alle zur selben Zeit dasselbe Lied anhören können, auch wenn sie nicht vor Ort sind. „Als ich das das erste Mal erlebt habe, habe ich eine große Innigkeit gespürt“, erzählt Möllers.
Immer öfter würden die Leute auch kleine Tütchen zur Beerdigung mitbringen und verteilen, etwa mit einem Foto des Verstorbenen und einem Rezept für einen „dezentralen Leichenschmaus“. Wer akzeptiert, in einer Krise zu leben, in der vieles nicht mehr möglich ist, tut sich oft leichter, neue Wege zu gehen, sagt Möllers. „Man muss
Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-rupieper in diesen Zeiten erfinderisch werden“, sagt auch Schroeter-rupieper, die unter anderem ein Buch übers Trauern geschrieben hat. „Und wir müssen wieder lernen, Worte zu finden – wir sind so sprachlos geworden.“
Viele seien überzeugt, eine Umarmung sage mehr als tausend Worte und dementsprechend fehlen vielen Leuten auch die Umarmungen bei einer Trauerfeier.
„Aktuell ist viel Nähe allerdings nur durch Sprache und Schreiben möglich“, sagt Schroeter-rupieper. Man müsse daher auf diese nächste persönliche Ebene ausweichen. „Auch mit dem Satz „Fühl dich umarmt“kommt der Wunsch an.“
André Schneiders Vater lag bereits vier Wochen auf der Intensivstation, als Schneider einen Anruf vom Oberarzt bekommt: Es gebe keine Heilungschancen mehr, die Behandlung dürfe daher auch aus ethischen Gründen nicht fortgesetzt werden. „Das muss erst einmal einsickern, was das bedeutet. Das heißt, die Geräte müssen abgestellt werden“, sagt Schneider.
Schneider, sein Bruder und seine Mutter dürfen zu einem letzten Besuch auf die Intensivstation. In Schutzanzügen verbringen sie noch einmal knappe zwei Stunden mit ihrem Vater beziehungsweise Ehemann. Der Krankenhausseelsorger spricht mit ihnen ein Gebet, dann dreht der Arzt das Rädchen, das die Sauerstoffzufuhr regelt, der Puls sinkt und innerhalb von einer Minute ist Schneiders Vater tot. „Man konnte sehen, wie das Leben ihn verlassen hat“, schildert Schneider diesen letzten Moment.
Die Beerdigung fand im engsten Familienkreis statt, alle standen in großem Abstand zueinander auf dem Friedhof. Freunde seien dann später gekommen, um im Stillen eine Blume ins Grab zu werfen, sagt Schneider. Die Sterbeursache Covid-19 ließ Schneider in der Traueranzeige vermerken. Er wollte damit zeigen: Die tägliche Statistik zu den Corona-todesfällen ist mehr als eine Zahl – hinter jeder Zahl steckt persönliches Leid.
„In deiner Trauer getragen“