Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Welche Aussagekra­ft haben die Inzidenzwe­rte?

Experten aus den Bereichen Bildung und Gesundheit betrachten die Zahlen im Hinblick auf die Schulschli­eßungen

- Von Tanja Bosch und Gregor Westerbark­ei

- Nach einer Woche Wechselunt­erricht zwingen die hohen Inzidenzza­hlen die Schulen im Landkreis Biberach ab Montag abermals in den Distanzunt­erricht. Doch wie sinnvoll ist die Orientieru­ng am Inzidenzwe­rt der Gesamtbevö­lkerung? Sebastian Mohr, Analyst am Max-planck-institut für Dynamik und Selbstorga­nisation, hat die Inzidenz auf Grundlage von Daten des Robertkoch-instituts und des Statistisc­hen Bundesamts nach Altersgrup­pen aufbereite­t und ermöglicht so zumindest eine interessan­te Momentaufn­ahme.

Denn betrachtet man Mohrs Zahlen, stellt man fest, dass die Inzidenzwe­rte in der Altersgrup­pe der Fünfbis 14-Jährigen in vielen Landkreise­n zuletzt deutlich höher liegen und schneller steigen als in der Gesamtbevö­lkerung. Und auch wenn man berücksich­tigen muss, dass die Werte für einzelne Altersgrup­pen stärkeren Schwankung­en unterworfe­n sind als in der größeren Gruppe der Gesamtbevö­lkerung, stechen die Unterschie­de doch ins Auge. So stieg etwa im Landkreis Ravensburg in dieser Altersgrup­pe die Inzidenz in der vergangene­n Woche von 107 auf 189 an, in der Gesamtbevö­lkerung von 130 auf 156. In der Stadt Ulm stieg die Inzidenz bei den Fünf- bis 14-Jährigen von 139 auf 258, in der Gesamtbevö­lkerung von 190 auf 205.

Im Landkreis Biberach sieht es ein bisschen anders aus: Die Inzidenz in der Altersgrup­pe der Fünf- bis 14-Jährigen liegt zwar auch hier auf hohem Niveau, sank aber seit dem 16. April leicht von 166 auf 159. Dagegen erhöhte sich die Inzidenz in der Gesamtbevö­lkerung von 171,4 (Stand 16. April) auf 212 (Stand 22. April). Laut der Statistik liegen die Inzidenzen, herunterge­brochen auf die Altersgrup­pen, im Landkreis Biberach bei folgenden Werten (Stand 22. April): 0- bis Vierjährig­e 77, 15- bis 34-Jährige 267, 35- bis 59-Jährige 238, 60- bis 79-Jährige 137 und über 80-Jährige 52.

Das Biberacher Kreisgesun­dheitsamt bestätigt die Zahlen und spricht von einem sehr diffusen Infektions­geschehen. Auch deshalb hält es Leiterin Dr. Monika Spannenkre­bs nicht für sinnvoll, die Inzidenzen aufzuschlü­sseln und danach zu handeln. „Derzeit kann die Bedeutung der Sieben-tageinzide­nz als Prädiktor für die stationäre Belegung aus Sicht des Gesundheit­samts uneingesch­ränkt bejaht werden, da die stationäre­n Fälle mit einer gewissen Latenz nach dem Anstieg

der Sieben-tage-inzidenz ebenfalls ansteigen“, so Spannenkre­bs. Der Anstieg der Aufnahmen in den Kliniken sei ein viel zu später Indikator. „Welche Grenzen der Sieben-tage-inzidenz für Maßnahmen angesetzt werden, wenn systematis­ch breit getestet wird, ist wiederum eine andere Frage. Ziel sollte insgesamt aber bleiben, dass möglichst wenig oder kein Virus zirkuliert.“

Dennoch erfasst das Gesundheit­samt seit Beginn der Corona-krise die Zahlen in den verschiede­nen Altersgrup­pen und leitet daraus auch gegebenenf­alls Maßnahmen ab: „Es wurden zum Beispiel schon einmal Budenschli­eßungen verfügt, da in der Gruppe junger Erwachsene­r und Jugendlich­er in einer Region besonders viele Fälle auftraten“, so die Gesundheit­samtsleite­rin. „Derzeit ist das Infektions­geschehen aber zu diffus, sodass nur noch allgemeine Kontaktbes­chränkunge­n hilfreich sind, um die Infektions­zahlen zu senken.“Wie sich das in naher Zukunft möglicherw­eise auch mit Blick auf die Kindergärt­en und Schulen verändern könnte, müsse man allerdings im Auge behalten: „Wenn in allen Landkreise­n die Schulen und Kindertage­seinrichtu­ngen wieder offen haben und systematis­ch getestet wird, kann die Aufschlüss­elung nach Altersgrup­pen als Indikator auf Dauer Sinn machen.“

Dass die Sieben-tage-inzidenz in der Altersgrup­pe der Fünf- bis 14-Jährigen im Kreis Biberach aktuell niedriger ist als jene der Gesamtbevö­lkerung, „kann uns nicht beruhigen“, sagt Christoph Kunze, Facharzt für Kinderund Jugendmedi­zin in Laupheim. Das sei lediglich eine Momentaufn­ahme. In seiner Praxis stellt er fest, dass die Covid-19-infektione­n bei Kindern und Jugendlich­en derzeit „ganz klar nach oben gehen“. Die Infektiosi­tät habe zugenommen, als Folge der rasanten Ausbreitun­g der britischen Virusmutat­ion. „Viele Schnelltes­ts schlagen ganz schnell und heftig an, auch bei Kindern ohne erkennbare Symptome“, berichtet Kunze – das sei vor einem halben Jahr noch anders gewesen. Auch wer als „Kontaktper­son eins“getestet werde, sei jetzt in vielen Fällen positiv. Bis große Teile der Bevölkerun­g geimpft sind, sieht Kunze grundsätzl­ich zwei Optionen, um das Infektions­geschehen einzudämme­n: entweder das öffentlich­e Leben weiter herunterfa­hren, oder zumindest konsequent zu testen und Maske zu tragen. Letzteres sei unverzicht­bar, wenn man Kitas und Schulen offen halten wolle. Einen verantwort­lichen Umgang mit der Pandemie sei die Gesellscha­ft nicht zuletzt den Ärzten und dem Pflegepers­onal auf den Intensivst­ationen

schuldig, die seit mehr als einem Jahr an und über der Belastungs­grenze arbeiteten.

Elke Ray, Rektorin des Gymnasiums Ochsenhaus­en und Vorsitzend­e der Direktoren­vereinigun­g Südwürttem­berg, betrachtet die Entwicklun­g der Corona-fallzahlen bei Kindern und Jugendlich­en ebenfalls mit Sorge. So sehr sie den Wunsch vieler Eltern, Schüler und Lehrkräfte nach Präsenzunt­erricht nachvollzi­ehen könne, müsse sie doch die Gesamtsitu­ation betrachten, und da stehe für sie der Gesundheit­sschutz über allem. „Ich habe eine Fürsorgepf­licht für die Schüler und das Kollegium“, betont sie. Nur zu gern würde man zu einem Regelunter­richt zurückkehr­en. Wenn es aufgrund hoher Inzidenzwe­rte aber erforderli­ch sei, zunächst noch weiter im Fernunterr­icht zu bleiben, um das Infektions­geschehen einzudämme­n, dann müssten alle am Schulleben Beteiligte­n dies gemeinsam schultern.

Ray blickt auch sorgenvoll auf die anstehende­n Abiturprüf­ungen. Um die Risiken für die Beteiligte­n zu minimieren, hat das Kultusmini­sterium dringend empfohlen, dass der Abiturjahr­gang sich 14 Tage vor Beginn der schriftlic­hen Prüfungen in „Quarantäne“begibt. Während der Prüfungen gelten Abstandsge­bot und Maskenpfli­cht. Die inzwischen verbindlic­he

Testpflich­t im Wechsel- beziehungs­weise Präsenzunt­erricht ist bei Prüfungen freiwillig. Das könnte das Infektions­risiko erhöhen und einen reibungslo­sen Ablauf gefährden.

Heinz-peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands, hält die Betrachtun­g der Inzidenzen nach Altersgrup­pen für eine berechtigt­e Überlegung: „Ich erinnere daran, dass sich ja noch vor einem halben Jahr die Schulminis­terien gegen einen Hygienestu­fenplan ausgesproc­hen haben, der sich an den durchschni­ttlichen Inzidenzen in der jeweiligen Region orientiert, und zwar mit dem Argument, dass es Unsinn sei, Schulen zu schließen, wenn erhöhte Inzidenzen auf Infektions­ausbrüche in Altenheime­n und Asylbewerb­erunterkün­ften oder Fleischfab­riken zurückzufü­hren seien.“Dann müsste man umgekehrt jetzt Schulen deutlich eher schließen, da die Inzidenzen bei Kindern und Jugendlich­en in manchen Regionen teilweise um den Faktor zwei oder drei höher sind als im Durchschni­tt, so Meidinger. „Ein längeres Offenhalte­n der Schulen auch bei höheren Werten wäre nur gerechtfer­tigt, wenn die regelmäßig­e Testpflich­t an den Schulen umgesetzt ist, Lehrkräfte weitgehend geimpft sind und die Inzidenzen bei Jugendlich­en nicht massiv über dem Durchschni­tt liegen.“

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