Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Rollende Raritäten
Ob aus Holz, Bambus oder individuell zusammengestellt – Außergewöhnliche Fahrräder von besonderen Menschen gebaut
Nicht nur die Italiener sind entzückt und rufen laut „Bella bicicletta!“, wenn Klaus Gessenauer während des legendären L’eroica-rennens in der Toskana an ihnen vorbeiradelt. Genauso staunen auch die Menschen, wenn der 64-Jährige sein außergewöhnliches Gefährt vor dem Ulmer Münster parkt oder über die Lindauer Hafenpromenade schiebt. Denn Gessenauer besitzt ein Holzrad. „Einen Eye-catcher“, wie der sportliche Bayer, der ursprünglich aus der Oberpfalz stammt, längst aber seine Heimat in Wertach bei Kempten gefunden hat, fast ohne bajuwarischen Zungenschlag immer wieder stolz feststellt. Aber das ist nicht die einzige Besonderheit, nicht der einzige Grund, auf Holz zu setzen. Gessenauer schwärmt auch von den Fahreigenschaften seines Holzrads und von dessen Stabilität.
Während Fahrräder – vor allem Pedelecs – zur Massenware geworden sind und sich die ganze Nation auf den Sattel schwingt, um der Corona-tristesse zu entkommen, treiben Rad-aficionados wie Gessenauer den Individualismus auf zwei Rädern auf die Spitze. Sie begnügen sich nicht mit handelsüblichen Gefährten, sondern legen selbst Hand an und greifen auf Materialien wie Bambus oder Holz zurück. Selbst Räder aus Pappe soll es schon geben!
Wer an Holzrad denkt, hat sofort Bilder von klobigen Laufrädern anno dunnemals im Kopf. Und tatsächlich hat auch Gessenauers Holzrad bereits einige Jahre auf dem Buckel. Doch klobig? Nein eher schlank und elegant erscheint das Rennrad, das er vor 35 Jahren von der Firma Cyco kaufte, die genau 150 Stück davon einst produziert hatte. Um an den L’eroica-rennen, wo nur Radklassiker zugelassen sind, als einer von bis zu 8000 Radlern teilnehmen zu können, musste er sein Gefährt aber noch den Regularien entsprechend umbauen. Carbon, Klickpedale und ähnlicher Schnickschnack sind nämlich nicht zugelassen. Und so verpasste Gessenauer dem Holzrahmen neue
Räder, Rahmenschalthebel für eine 12-Gang-schaltung statt der eingebauten Sti-schaltung, einen neuen Lenker und einiges mehr. Nächtelang schraubte und tüftelte er dafür in seiner kleinen Kellerwerkstatt in Wertach. Um den Vintage-style perfekt zu machen, besorgte sich Gessenauer auch historische Kleidung, in der er sich schließlich auf den braunen Ledersattel seines schönen Holzrads setzte, den 143 Kilometer langen Kurs absolvierte und damit bei den Italienern wahre Begeisterungsstürme hervorrief.
Die Begeisterung hielt sich nicht in italienischen Grenzen, sondern ist längst auf Gessenauer, seine Familie und ein paar Mitstreiter übergesprungen. Fünfmal hat der Wertacher inzwischen an der L’eroica teilgenommen und schwärmt noch heute davon: „Das ist ein riesiges Fest.“Und im Nachsatz flüstert er ins Ohr, dass an den Verpflegungsstellen Rotwein statt Energydrinks ausgeschenkt wird. Doch nicht nur das Rennen fasziniert Gessenauer immer wieder aufs Neue, auch seine Liebe zum Holzrad hat gehalten. „Holz hat mich immer schon begeistert. Eigentlich hätte ich Schreiner werden sollen“, gesteht er. Doch der gelernte Technische Zeichner, zeitweise Besitzer eines Fahrradladens und Schwimmmeister musste fast das Rentenalter erreichen, bevor er endlich selbst in Holz machen durfte. Heute baut Gessenauer nämlich Räder – aus Eschenholzfurnieren, die dünner als ein Streichholz sind.
Nur 1,5 Millimeter ist das in Streifen geschnittene (ganz wichtig!) Furnier dick. Allerdings leimt der Hobby-schreiner-fahrradbauer teilweise 100 Stück davon aufeinander. Das macht den Rahmen nicht nur um ein Vielfaches stabiler verglichen mit einem Gestänge aus massivem Holz, sondern gleichzeitig auch leichter und geschmeidiger. Jahrelang hat Klaus Gessenauer getüftelt und ausprobiert, bis er den idealen Rahmen konstruiert hatte, der nun nach seiner Vorlage und mit seinen geleimten Eschenholzfurnieren von einer Schreinerei in der Nachbarschaft gebaut wird.
Sanft, fast zärtlich streichelt der Tüftler über die geölten Holzrahmen, von denen er behauptet, dass sie absolut wetterfest und stabil sind. Zwei dieser Räder, von denen eines rund 5000 Euro kostet und ohne Pedale genau 10,3 Kilogramm wiegt, hat Gessenauer selbst behalten. Mit ihnen geht er immer mal wieder auf Tour. Nur noch selten greift er jedoch zu seinem hölzernen Nostalgie-rennrad, auf dem er in den vergangenen Jahren immerhin schon über 30 000 Kilometer zurückgelegt hat. „Bergab bin ich damit sogar schon mal mit 70 Kilometern pro Stunde geheizt, und das auf Schotterwegen“, verrät er. Schnelligkeit liegt ihm einfach im Blut. Denn übers Brustschwimmen (15-mal deutscher Meister) und über den Triathlon (130 hat er absolviert) ist Gessenauer schließlich zum
Radsport gekommen. Seine knapp 65 Jahre sieht man dem sportlichen Bayer kaum an. Auch nicht, dass er bereits eine Bypass- und eine Krebsoperation hinter sich hat.
Wenn er in seiner kleinen Werkstatt steht, untergebracht im Kellerraum eines Mietshauses ohne Fenster, das den Blick auf die herrliche Bergwelt drumherum freigeben würde, vergisst er das alles. Denn dort hängt der Himmel voller – Räder. Und die sind nicht, wie man meinen könnte, aus Holz, sondern meist aus Stahl. Denn die Holzvehikel sind nur Gessenauers kleines Hobby, das große gilt alten Rennrädern, die er restauriert oder aus zusammengekauften Teilen neu baut. Abnehmer dafür findet er in der ganzen Welt, vor allem aber in Berlin. „Das ist die Hauptstadt für Rennrad-klassiker“behauptet er.
Von Nostalgie und Klassikern weit entfernt sind die Geschosse, die in Vogt am Rande des württembergischen Allgäus zusammengebaut werden. „Propain“nennt sich die Firma, was übersetzt soviel heißt wie „Für den Schmerz“. Um den Firmennamen verstehen zu können, muss man wissen, dass die Gmbh vor knapp zehn Jahren von den zwei passionierten und teilweise auch professionellen Mountainbikern David Assfalg und Robert Krauss gegründet worden ist, die oft bis an die Schmerzgrenze, nicht selten auch darüber hinaus, ihrem Sport gefrönt haben. Heute kämpft ein Athletenteam bei internationalen Rennen für Propain um Ehre und Titel. Aber auch für Hobbysportler ist Vogt eine besondere Adresse. Denn der inzwischen auf 80 Mitarbeiter angewachsene Fahrradhersteller entwickelt die Rahmen in verschiedenen Größen selbst und lässt sie in Taiwan produzieren. Jedes Teil, das neben dem Rahmen zu einem Mountainbike gehört, kann der Kunde individuell aussuchen. Auch welche Farbe das gewünschte Unikat haben soll, mit welchen Bremsen, Federungen oder Pedalen es letztlich ausgestattet sein soll, bestimmen die Kunden selbst oder mithilfe der Propainprofis. Zusammengebaut wird das Unikat dann in Vogt. Weltweit werden die so individuell konfigurierten Mountainbikes direkt an den Kunden verschickt, etwa 8000 Stück im Jahr zu einem Preis zwischen 2700 und 8500 Euro – je nach Ausstattung.
Kein Rad von der Stange fährt auch, wer auf dem liebevoll genannten „Grasesel“daherrollt. Gemeint sind damit Fahrräder aus Bambus, die mittlerweile von mehreren Firmen in Deutschland hergestellt werden. Bei den meisten ist dies verbunden mit einem Nachhaltigkeitskonzept
und sozialen Projekten in Asien oder Afrika. Tatsächlich gilt Bambus als der am schnellsten nachwachsende Rohstoff der Erde. Jährlich können große Mengen gefällt werden, ohne den Bestand zu gefährden. Viele Bambusarten haben großflächige Wurzelsysteme, aus denen ständig neue Pflanzen nachwachsen. Und in der Gewinnung und der Verarbeitung ist Bambus sauberer als Stahl und Aluminium.
Nachhaltigkeit und fairer Handel spielen auch bei der My-boo-manufaktur in Kiel eine große Rolle. Die Firma lässt ihre Bambusrahmen in Ghana bauen und kooperiert eng mit dem Yonso Project, das die Jugendarbeitslosigkeit vor Ort bekämpfen will. Für diese Zusammenarbeit hat My Boo 2019 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis gewonnen. Außerdem hat die Manufaktur den Bau einer Schule unterstützt, die seit 2019 von über 200 Kindern besucht wird.
Das erste Fahrrad aus Bambus hat My Boo bereits 2014 auf den Markt gebracht. Und zwar so erfolgreich, dass mittlerweile mehr als 40 Menschen in Kiel und weitere 40 in Ghana für die Firma arbeiten. Die Produktpalette umfasst inzwischen beinahe 20 Modelle, vom Cityübers Trekking- bis hin zum E-bike mit Preisen zwischen knapp 2000 und 5000 Euro. Zusammengebaut werden die individuell zusammengestellten Bambusräder in Kiel. Wer auf ein Bambusrad umsattelt, erwirbt laut My Boo ein stabiles und widerstandsfähiges Gefährt. Durch die einzelnen Kammern und die dicke Außenwand seien Bambusstangen extrem fest und gleichzeitig leicht.
Wenn man die Hersteller von Bambusfahrrädern nach den Vorzügen ihrer Bikes fragt, geraten sie schnell ins Schwärmen. Nicht nur über die Nachhaltigkeit, die mit diesem Rohstoff verbunden ist, sondern auch über die Haltbarkeit, das Fahrgefühl und den besonderen Look. Denn das Rad aus der Stange ist alles andere als ein Rad von der Stange. Was genauso für die Holzräder aus Wertach und die individualisierten Mountainbikes aus Vogt gilt.