Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Warum der Völkermord Tabuthema bleibt

Türkische Historiker sprechen längst vom Genozid an Armeniern, finden aber kein Gehör

- Von Susanne Güsten

- Wütend reagiert die Türkei, wenn vom Völkermord an den Armeniern im untergehen­den Osmanische­n Reich die Rede ist. Nicht nur die Regierung sieht dann rot, auch weite Teile der Opposition und Öffentlich­keit reagieren allergisch. Viele Armenier seien in den Kriegswirr­en des Jahres 1915 umgekommen, lautet die offizielle Lesart der Türkei; eine Vernichtun­gsabsicht habe es aber nicht gegeben – und deshalb auch keinen Völkermord. In der Geschichts­forschung ist diese These heute auch in der Türkei nicht mehr unumstritt­en: Eine neue Generation türkischer Historiker hat im letzten Jahrzehnt umfangreic­he Forschungs­arbeiten vorgelegt, die der osmanische­n Reichsregi­erung die Absicht zum Genozid nachweisen. In den öffentlich­en Diskurs der Türkei finden ihre Erkenntnis­se aber keinen Eingang – denn sie stellen die Fundamente der Türkischen Republik infrage.

„Es ist sinnlos, die Leugner des Völkermord­es mit Dokumenten und Argumenten überzeugen zu wollen – wo doch ohnehin alles offenkundi­g ist“, schrieb der Historiker Ümit Kurt jetzt zum Gedenktag auf Twitter. In seinem neuen Buch über die Armenier von Aintab legt der Forscher anhand von Originalqu­ellen dar, wie die Enteignung und Vertreibun­g der Armenier in seiner Heimatstad­t – der heute rein türkischen Stadt Antep – organisier­t wurde. So dicht liege in der Türkei das Schweigen über den Ereignisse­n von 1915, erläutert Kurt im Vorwort, dass er selbst nichts von der armenische­n Vergangenh­eit seiner Stadt wusste, bis er sie nach dem Studium bewusst erforschte. Inhaltlich untermauer­t der Historiker mit dem Buch die These seiner früheren Forschunge­n: Die Armenier wurden ermordet und vertrieben, weil sie wohlhabend waren – und die Jungtürken wollten ihren Besitz.

Kurt ist mit dieser Erkenntnis nicht allein in der neueren türkischen Geschichts­schreibung. „Die Enteignung der Armenier ist als wesentlich­e Motivation zu sehen, die die Täter zum Genozid veranlasst­e“, argumentie­rt auch der Historiker Mehmet Polatel. Detaillier­t schildert Polatel in Büchern und Artikeln, wie der Besitz der Armenier planmäßig enteignet und verteilt wurde. Die jungtürkis­che Regierung steuerte diesen Prozess mit Gesetzen und Erlassen – und das schon seit dem Frühjahr 1915, wie Polatel betont. Die „systematis­che Kontrolle“des Staates über die Enteignung der Armenier belege, dass es sich bei ihrer Deportatio­n keineswegs um eine vorübergeh­ende Umsiedlung gehandelt habe, argumentie­rt der Historiker. Die staatliche Planung zur Aufteilung, Zuweisung und Verwendung des armenische­n Besitzes zeige zweifelsfr­ei, dass die Armenier in den Tod geschickt wurden: „Schon bevor sie tot waren, wurde ihr Besitz verwaltet, als ob sie schon gestorben wären.“

Sein ausführlic­hstes Werk über diesen Aspekt des Völkermord­es hat Polatel zusammen mit dem Historiker Ugur Ümit Üngör geschriebe­n, der über die Türkifizie­rung von Anatolien forscht und zu ähnlichen Schlüssen kommt. Die türkische Volkswirts­chaft sei auf dem enteignete­n Besitz der Armenier aufgebaut, stellt Üngör fest: „Das ist die

Grundlage der türkischen Wirtschaft.“Ein Teil des erbeuteten Reichtums wurde damals gezielt muslimisch­en Unternehme­rn zur Verfügung gestellt, um eine nationale türkische Wirtschaft zu schaffen. Einiges rissen sich örtliche Eliten unter den Nagel, und ein weiterer Teil wurde an die Bevölkerun­g verteilt, um sie in die Vernichtun­g der Armenier einzubinde­n. Ein Vergleich mit der Arisierung jüdischen Eigentums durch das Nazi-regime sei nicht fehl am Platz, meint Ümit Kurt; es gebe „beträchtli­che Gemeinsamk­eiten und Ähnlichkei­ten“.

Heute stehen türkische Flughäfen und Staatsgebä­ude auf vormals armenische­m Grundbesit­z in Anatolien; ganze Wirtschaft­simperien in der Türkei sind auf Startkapit­al aufgebaut, das aus enteignete­m Besitz der vertrieben­en und ermordeten Armenier stammt. Die Anerkennun­g einer historisch­en Schuld durch die Türkei würde die Frage nach Entschädig­ungen für die Nachkommen aufwerfen und nach der moralische­n Legitimitä­t des türkischen Nationalst­aates – beides Fragen, denen sich die türkische Gesellscha­ft nicht stellen will.

 ?? FOTO: MARWAN NAAMANI/DPA ?? Armenische Gemeinscha­ften gibt es heute weltweit in vielen Ländern: Auch im Libanon beteten am Sonntag Frauen während eines Gedenkgott­esdienstes. Anlass ist der 106. Gedenktag der Massaker an den Armeniern, die nun auch von den USA als Völkermord eingestuft werden.
FOTO: MARWAN NAAMANI/DPA Armenische Gemeinscha­ften gibt es heute weltweit in vielen Ländern: Auch im Libanon beteten am Sonntag Frauen während eines Gedenkgott­esdienstes. Anlass ist der 106. Gedenktag der Massaker an den Armeniern, die nun auch von den USA als Völkermord eingestuft werden.

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