Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
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Das Riedlinger Amtsgericht war vor 115 Jahren ein architektonisches Vorzeigebauwerk
- „Der König vertritt den Staat in allen seinen Verhältnissen gegen auswärtige Staaten… Die Gerichtsbarkeit wird im Namen des Königs und unter dessen Oberaufsicht durch kollegialisch gebildete Gerichte in gesetzlicher Instanzenordnung verwaltet… Keinem Bürger, der sich … in seinem Privatrechte verletzt glaubt, kann der Weg zum Richter verschlossen werden.“Nach der Neuordnung Europas und dem Übergang Riedlingens an das Königreich Württemberg 1806 wurde aus der ehemals „Vorderösterreichischen Donaustadt“eine königliche Oberamtsstadt im Donaukreis Ulm. Mit der Reform des Justizwesens 1817 unter König Wilhelm I. erhielt Riedlingen ein Oberamtsgericht. Als Gebäude wurde 1818 seitens der Stadt der „Lange Bau“in der Pfaffengasse, der ehemals zum Spital gehörte, käuflich zur Verfügung gestellt.
Allerdings reagierte die königliche Verwaltung zögerlich mit Begründungen, die heute nachvollziehbar sind für einen Beamtenstab aus der Großstadt: Alle Leichen würden durch das Spitaltörle befördert, der „Leichenschragen“stehe im Tor, gegenüber lag der Beschälstall, auch Dunglegen seien nicht fern, der dort abgehaltene Schweinemarkt musste verlegt werden und „überhaupt sei das Gebäude ungesund“. „Ställe, Kloaken und Dunglegen sind in einem Landstädtchen, dessen Haupterwerbszweig im Betrieb der Ökonomie besteht, unumgänglich“, versuchte die Stadtverwaltung, die Argumente der Amtsversammlung zu entkräften. Zudem sei das benachbarte Spital „kein Lazarett, sondern ein Zufluchtsort für arme und alte Leute, wo Ordnung und Reinlichkeit herrscht“. Die geschilderten Zu- und Umstände mussten die Bewohner im „Armen- und Bettelhaus“jahrhundertelang ertragen, ebenso das „Knabeninstitut des Kaiserl. Königl. Österr. Regiments“zwischen 1793 und 1795 und eine königliche Reiterei hatte hier Quartier bezogen 1806 -1807 und 1811 - 1812. Jahrelang regierte im Langen Bau die Stadtverwaltung mangels eines Rathauses.
An Arbeit fehlte es dem Oberamtsrichter nicht. Die Riedlinger Zeitung listete 1857 auf, welche „Fälle“durch das Königliche Landjägercorps „ergriffen und eingeliefert wurden: 5 Mörder, 14 Räuber, 21 Brandstifter, 1564 Diebe, 24 Wilderer, 4 in- und 6 ausländische Deserteure, 2 entwichene Kriegsdienstpflichtige, 1037 Landstreicher, 3723 Bettler und 9810 sonstige Gesetzesübertreter“. Große Not und politische Unsicherheit lässt sich aus den Zahlen herauslesen. Dagegen wurde in der Oberamtsbeschreibung 1923 festgestellt, dass „der Wohlstand sich in den letzten Jahren außerordentlich gehoben hat und der Anfall an Zivilprozessen unbedeutend wurde. Allerdings sei der Anfall an Strafsachen groß, woraus aber kein Schluß auf die Moral der Einwohner des Bezirks gezogen werden dürfe“. Täter kämen aus großen Städten des Bezirks und „Rohheitsdelikte seien selten“.
Bis 1907, also knappe 100 Jahre, mussten der Oberamtsrichter, der Amtsrichter, die Sekretäre und weiteres Personal das Wohnen und Arbeiten in diesem „ungesunden“Gebäude aushalten. Dann erst konnten die neuen Räume bezogen werden, die für das „Königl. Amtsgericht“in der Kirchstraße 20 errichtet worden waren. Das Gebäude ergänzte die Bebauung der nach 1900 über den Stadtgraben hinaus verlängerten Kirchstraße mit St. Agnes 1902, dem Schulgebäude 1903, der Villa Burkart 1904 und abschließend mit dem Bau des Finanzamts 1909. Nie war die Bedeutung der Oberamtsstadt als Ort der staatlichen Institutionen deutlicher zu sehen als damals.
Der Neubau war auch architektonisch sehr beachtet worden. Er wurde in der „Bauzeitung für Baden Württemberg, Baden, Hessen, Elsasslothringen“1910 vorgestellt und beschrieben und gelobt. Die Planung lag in Händen des Baurats Kuhn aus Stuttgart, die örtliche Bauleitung besorgte das „Königliche Bezirksbauamt“Biberach.
Der Architekt schuf im „neu erstehenden Stadtteil eine sehr gefällige Baugruppe“, deren Giebel das „Symbol der Weisheit, einer Eule“ziert. Auf der Hauptseite war ehedem eine „monumental gehaltene edle Frauengestalt in künstlerischer, ruhig gehaltener Umrahmung, die Gerechtigkeit darstellend“zu sehen. Das Kunstwerk eines Lehrers der Kunstgewerbeschule Stuttgart musste später einem Fensterdurchbruch weichen. Die Ausstattung war modernst: „Das Gebäude ist mit elektrischer Beleuchtungs- und Klingelanlage sowie Wasserleitung versehen. Die Kanzleiräume haben Parkettböden, die Kanzleigänge und Nebenräume, wie Aborte usw. rote Steinzeugfliesen, die Wohnung teils Parkett-, teils Linoleumböden. Das Erdgeschoß enthält den gegen die Hospitalstraße gelegenen Sitzungssaal mit Beratungszimmer, das Zimmer der Rechtsanwälte und der Parteien, die Gefangenenzelle sowie die sonstigen Diensträume für die Richter, Referendare, die Gerichtsschreiber und Kanzleigehilfen, den Zustellungsbeamten, den Diener, die Registratur mit den erforderlichen Nebenräumen.“Im ersten Obergeschoss waren die Wohnung des Oberamtsrichters und Räume der „Freiwilligen Gerichtsbarkeit“(Notariate). Das Archiv befand sich im Untergeschoss.
Bemerkenswert ist die Nennung der am Neubau beteiligten, örtlichen Handwerksbetriebe, deren Namen heute noch zum Teil bekannt sind: „Die Grabarbeiten fertigten F. Sautter und Konsorten aus Pflummern; die Beton- und Maurerarbeiten die Maurermeister J. und E. Traub aus Betzenweiler; die Zimmerarbeiten die Meister Letsch, Beck und Traub in Riedlingen. Die Flaschnerarbeiten besorgten die Meister Gröber und Bosch aus Buchau, die Schmiedearbeit Schmiedmeister Rothmund in Riedlingen. Das Walzeisen zu dem Neubau lieferten die Eisenhandlungen Dorner und Miller, die Schlosserarbeiten die Meister Geiger, Steinhart, Fußenegger und Lock, die Malerarbeiten Malermeister Schwarz und Hildenbrand, die Tapezierarbeiten Tapeziermeister Meßmer, den Linoleumbelag Aussteuergeschäft Philipp Stapp, die elektrischen Anlagen das Elektrizitätswerk Riedlingen, sämtliche aus Riedlingen. Die Schreinerarbeiten führten aus: Die Schreinermeister Franz Eisele und Fr. Glocker in Riedlingen, sowie Schreinermeister Kettenacker (Kettnaker, Anm. d. Red.) in Dürmentingen. Bauwerkmeister Haaf aus Heiligkreuztal hatte an den Entwürfen mitgearbeitet, den Bau beaufsichtigt und unermüdlich verbessert, verschönt und selbst Hand angelegt.“
Der Bau wurde im Frühjahr 1906 begonnen und im Herbst des Jahres vollendet. Die Kosten beliefen sich auf 104 500 Mark, den Bauplatz stellte die Stadt zu günstigen Preisen zur Verfügung. Zur Einweihung reiste per Bahn Staatsminister der Justiz von Schmidlin aus Stuttgart an. Interessant ist auch, dass in der Bauzeitung ein sich anschließender Artikel des aus Riedlingen gebürtigen Carl Landauer über „Architektonische Eindrücke von Berlin“mit Fotos des Riedlinger Neubaus bestückt wurde. Dieser durchaus moderne und sachliche Baustil diente als Kontrast zu den „charakterlosen, langweiligen und architektonisch recht dilettantischen Straßenzügen Berlins“im Stil der Gründerzeit.