Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
„Bürgerräte sind der Weg aus der Blase“
Der Demokratieforscher Hans J. Lietzmann rät der Politik, die Wähler bei wichtigen Fragen stärker einzubeziehen
- Der bundesweite Bürgerrat für Klimapolitik hat am Montag seine Arbeit aufgenommen. Ziel sei es, Lösungen im Kampf gegen die Erderwärmung zu finden, sagte Ex-bundespräsident und Schirmherr Horst Köhler. Bei dem Klimawandel handele es sich um die „schwerste Krise aller Zeiten“. „Der nötige Umbau verlangt Politik und Gesellschaft vieles ab.“Für den Bürgerrat geben 160 Bürgerinnen und Bürger Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik ab. Die Teilnehmer werden bis Juni ausgelost. Der Soziologe Hans J. Lietzmann erklärt im Gespräch mit Igor Steinle, warum die Politik dringend die Hilfe der Bürger benötigt.
Herr Lietzmann, warum brauchen wir einen Bürgerrat zum Klima?
Alle Maßnahmen, die mit der Klimawende zusammenhängen, werden unmittelbar in der Bevölkerung umgesetzt. Sie ist von der Mitwirkung der Menschen abhängig. Deswegen ist es wichtig, deren Wahrnehmung genau zu kennen, um die Klimawende auf die Bereitschaft und auch die emotionalen Möglichkeiten der Menschen abstimmen zu können.
Schafft die Politik das nicht alleine?
Üblicherweise holen die Abgeordneten die Meinungsbilder der Menschen in den Wahlkreisen ein. Die Gesellschaft ist allerdings sehr viel pluralistischer und heterogener geworden. Auch die Umfrageforschung ist im Grunde überfordert, das exakt abzubilden. In Bürgerräten kommen Aussagen mit einer ganz anderen Wertigkeit zustande.
Wieso hat sich die Gesellschaft geändert?
Das Bildungsniveau und der Zugriff auf Informationen ist in den vergangenen 30 Jahren enorm gewachsen. 60 Prozent einer Alterskohorte sind auf Universitäten. Die sind deswegen nicht superschlau, aber sie wissen, wie man an Informationen kommt und bilden sich ihre eigene Meinung. Viel mehr als ihre Eltern oder Großeltern, die noch ihrer jeweiligen politischen Führung, Kirchenvätern oder Gewerkschaften gefolgt sind.
Sehen Sie ähnliche Tendenzen innerhalb der Parteien? Markus Söder hat Cdu-gremien ja als Hinterzimmer abgetan und sich auf den vermeintlichen Willen der Basis bezogen.
Die soziale Dynamik, die dem zugrunde liegt, ist dieselbe. Es gibt ein Mitwirkungsbedürfnis in der Bevölkerung und in der Basis der Parteien. Auf das rekurrieren Söder, Sebastian Kurz in Österreich, Emanuel Macron in Frankreich, aber auch Donald Trump in den USA. Sie alle haben ihre eigenen Parteien mit einer Mobilisierung der Bevölkerung überrumpelt. Ein Bürgerrat würde aber genau das nicht tun. Er ist ein Verhandlungsformat,
in dem Bürger Argumente hin- und her gewichten. Es entsteht ein Diskurs auf Augenhöhe, die Verantwortung bleibt bei den institutionellen Verfassungsgremien.
Handelt es sich bei den Tendenzen um Symptome einer Krise der repräsentativen Demokratie?
Es handelt sich um Symptome der sozialen Entwicklung, die wir in modernen Staaten haben, wegen denen die repräsentative Demokratie Erneuerung benötigt. Ich würde nicht so weit gehen, von einer Krise zu reden. Das repräsentative System, das wir jetzt haben, ist über 70 Jahre alt. Da ist es völlig normal, dass man mal nachsteuern muss. Wir erarbeiten gegenwärtig ein Gutachten für den Bundestag, wie das funktionieren könnte.
Und wie?
Es geht darum, wie Bürgerräte in den parlamentarischen Betrieb integriert werden können. Der Bundestag könnte einen Beauftragten oder eine Stabsstelle zur Durchführung solcher Räte mit festem Haushaltstitel einrichten. Andere Organisationen könnten die Bürgerräte durchführen. Die Parteien müssten dann sehen, inwiefern sie ihre Haltung mit den Positionen des Bürgerrats in Einklang bringen.
Taugen Bürgerräte dazu, konfliktreiche Debatten zu befrieden?
Ja, sogar gerade dazu. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass konfliktreiche Themen sich mit diesem Verfahren auflösen können. Für Routinefragen ist es viel zu aufwendig.
Brauchen wir einen Bürgerrat zur Corona-politik?
Das wäre sicherlich nicht falsch, die gibt es in manchen Ländern ja auch bereits. Bürgerräte sind aber ein langsames Vehikel, in der Coronapolitik stehen wir ja unter Zeitdruck. Aber im Prinzip wäre genau das ein Weg, um Dramatik aus der Debatte rauszunehmen.
Die sich erst am Wochenende wieder mit den Schauspieler-videos gezeigt hat.
Das war ein typisches Beispiel dafür, was passiert, wenn Bewohner einer Meinungsblase nicht verstehen, dass man mit Ironie keine breite Diskussion führen kann. Ironie setzt voraus, dass mein Empfänger die gleichen Kriterien anwendet wie ich. Wenn Menschen aber Anderes für richtig halten, fährt man mit Ironie gegen die Wand und verursacht nur Hysterie.
Bürgerräte zeigen den Weg aus der Blase?
Ja, in ihnen sind nämlich alle Blasen vertreten. Deswegen kommen sie zu ganz besonderen und gemeinwohlorientierten Ergebnissen.