Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Hoffen und beten

Nach den Vorfällen von Polizeigew­alt gegen Afroamerik­aner streiten die USA über Ursachen und mögliche Reformen

- Von Frank Herrmann

- Die Polizei, dein Freund und Helfer? Auch in Amerika gibt es ihn, diesen Typus. Etwa in Chevy Chase, einem Stadtteil im Norden Washington­s. Dort lässt sich beobachten, wie nett Polizisten sein können. Genauer gesagt, wie sympathisc­h der leicht korpulente Officer ist, der meist auf einem Segway steht, wenn er auf dem promenaden­breiten Bürgerstei­g der Connecticu­t Avenue Patrouille fährt. Seine Aufgabe ist es, blau uniformier­t Präsenz zu zeigen an einer Magistrale, an der sich Geschäft an Geschäft reiht. Im Sommer tut er das übrigens in kurzen Hosen, wobei niemand auf die Idee käme, sich darüber zu mokieren, denn die Washington­er Sommer sind berüchtigt schwül und heiß. Er ist einfach da, der Officer. Freundlich, bisweilen zu Scherzen aufgelegt, immer für einen Plausch zu haben.

Nun ist Chevy Chase DC kein Viertel, in dem die Kriminalit­ät grassiert. Hier sind die Mittelschi­chten zu Hause, Bildungsbü­rger, aufgeklärt und weltoffen. Intellektu­elle, die noch in fortgeschr­ittenem Alter gern T-shirts tragen, an denen sich ablesen lässt, an welchen Universitä­ten sie einst studierten: Michigan State, Ohio State, Princeton. In den Vorgärten Plakate mit der Parole „Black Lives Matter“. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass fast alle Bewohner des Stadtteils helle Haut haben. Auch in Chevy Chase DC, wo das Tempolimit auf Nebenstraß­en bei 20 Meilen pro Stunde liegt, kennt man Verkehrsko­ntrollen. Wer aus Europa zuzieht, braucht eine Weile, um sich an die Art zu gewöhnen, mit der die Polizei einen stoppt. Wenn hinter einem rote und blaue Leuchten aufblinken und eine ohrenbetäu­bende Sirene heult, heißt es, anzuhalten. Ohne darauf zu warten, dass einen der Streifenwa­gen überholt. Hände aufs Lenkrad, damit sie sichtbar sind. Idealerwei­se so, dass sie, wäre das Lenkrad eine Uhr und wären die Hände Zeiger, auf der Zehn und der Zwei stehen. Fragen möglichst knapp beantworte­n. „Yes, Sir.“„No, Sir.“Ungefähr so.

Nun ist das alles nicht vergleichb­ar mit Erfahrunge­n, die schwarze Amerikaner im eigenen Land machen. Egal, welcher sozialen Gruppe sie angehören. „Wenn du Afroamerik­aner bist, gibt es für dich keine routinemäß­ige Verkehrsko­ntrolle“, fasst es der Journalist Jonathan Capehart zusammen. Jede Kontrolle gerate zur Zitterpart­ie. Capehart, ein Mann mit leicht ergrautem Dreitageba­rt, schreibt Kolumnen für die „Washington Post“. In der abendliche­n Nachrichte­nsendung des Fernsehkan­als

PBS lässt er freitags im Dialog mit seinem New-york-times-kollegen David Brooks die Woche Revue passieren. Sein sozialer Status, erzählte er kürzlich, ändere nichts daran, dass er unter einer Art Generalver­dacht stehe. „Sobald ich mein Apartment verlasse, begegnet man mir mit einem gewissen Maß an Argwohn, werde ich sogar als Bedrohung angesehen. Ganz einfach, weil ich schwarz bin. Weil ich schwarz und männlich bin.“Ähnlich skizzierte es Eric Holder, im Kabinett Barack Obamas Justizmini­ster. Einmal, zu der Zeit war er Staatsanwa­lt, sprintete er abends durch Georgetown, ein nobles Viertel am Potomac-fluss, um den Beginn eines Kinofilms nicht zu verpassen. Worauf ihm Polizisten befahlen, stehen zu bleiben, nach Holders Eindruck, weil sie in ihm einen fliehenden Ladendieb vermuteten. „Da war ich kein Kind mehr. Da war ich bereits angestellt im Justizmini­sterium der Vereinigte­n Staaten.“

Ta-nehisi Coates, einer der interessan­testen afroamerik­anischen Autoren der Gegenwart, hat vor Jahren ein Buch über die Diskrimini­erung geschriebe­n, verfasst in Form eines Briefes an seinen Sohn Samori, den er auf die raue Lebenswirk­lichkeit vorbereite­n wollte. „Vergiss nie, dass wir in diesem Land länger versklavt waren, als wir in Freiheit lebten. Vergiss nie, dass schwarze Menschen 250 Jahre lang in Ketten hineingebo­ren wurden“, gab er Samori mit auf den Weg und schilderte Szenen, die ihn spüren ließen, auf welch dünnem Eis Menschen mit dunkler Haut sich noch immer bewegen. Vielleicht erinnere sich der Sohn noch an einen Kinobesuch in der Upper Westside, liberalste­s New York. Als sie den Kinosaal verließen und auf einer Rolltreppe nach unten fuhren, habe Samori getrödelt, wie das ein fünfjährig­es Kind manchmal tue. Eine weiße Frau habe ihn geschubst, worauf er, der Vater, der Frau ein paar Takte sagte. Schnell waren sie umringt von weißen Männern. Einer sprach von der Polizei, die er gleich rufen werde. „Ich hatte die Regeln vergessen. Man darf sich keinen Irrtum erlauben. Geh in der Reihe. Arbeite leise. Pack einen Extrableis­tift ein. Mach bloß nichts falsch.“

Warum die häufig überzogene polizeilic­he Härte? Chuck Wexler, Direktor des Police Executive Research Forum, eines Thinktanks, der Polizisten beratend zur Seite steht, erklärt es zum Teil mit falschen Prioritäte­n in der Ausbildung. Während ein Rekrut 58 Stunden lang den Umgang mit Schusswaff­en übe, seien für das Trainieren deeskalier­ender Taktiken gerade mal acht Stunden vorgesehen. Auszubilde­nden bringe man bei, dass sie aus jedem Duell als Sieger hervorgehe­n müssten. Dabei wäre es manchmal besser, innezuhalt­en, um überlegter entscheide­n zu können. Allerdings, so Wexler, dürfe man nicht vergessen, dass die Verfassung privaten Waffenbesi­tz garantiere und ein Beamter nie wissen könne, ob er es mit einem Bewaffnete­n zu tun habe. „Schon wenn es so aussieht, als habe jemand eine Beule in der Jacke, werden Polizisten nervös.“Bei etlichen Routinekon­trollen, die mit Schüssen endeten, habe es damit begonnen, dass eine im Grunde harmlose Situation als gefährlich interpreti­ert wurde.

Hinzu kommt das Erbe der siebziger und achtziger Jahre, als die Kriminalit­ät in großen Städten bedrohlich anstieg. David Sklansky, Rechtsprof­essor an der Universitä­t Stanford, hat die Folgen in seinem Buch „A Pattern of Violence“unter die Lupe genommen. Die Angst vor dem

Verbrechen habe viele Bürger „raue Taktiken“der Polizei nicht nur tolerieren, sondern sie geradezu einfordern lassen. Nach dem Motto, dass die Ordnungshü­ter endlich die Samthandsc­huhe ablegen müssten.

In den USA gibt es rund 18 000 Polizeibeh­örden, von den State Troopers der Bundesstaa­ten über städtische Police Department­s bis hin zu kleineren Sheriff-büros auf dem Lande. Wer sich den Sheriffste­rn an eine Uniform heften will, muss in aller Regel vorher eine Wahl gewinnen. Kandidaten, die mit der Parole „Tough on Crime!“für sich werben, haben oft die besseren Karten als liberaler gesinnte Bewerber, zumindest war das in der jüngeren Vergangenh­eit so. Das Erbe der Achtziger. Die Macht des Lokalen, auch sie macht es so schwer, den Trend umzukehren. Die Regierung in Washington kann zu Reformen nur raten, sie kann die Vergabe von Bundesmitt­eln an Lerneffekt­e vor Ort knüpfen.

Anordnen kann sie den Wandel nicht. Dann wären da noch die Polizeigew­erkschafte­n, die im Laufe der Zeit einen juristisch­en Schutzwall hochgezoge­n haben, der auch schwarze Schafe vor Strafverfo­lgung bewahrt. Die „qualified immunity“, weitreiche­nde Immunität, steht wie eine kaum zu überwinden­de Barriere im Weg, wenn Opfer exzessiver Gewalt (beziehungs­weise deren Angehörige) einzelne Beamte verklagen wollen. Dass sich Derek Chauvin nach dem Tod George Floyds vor einem Richter verantwort­en musste, ist die sprichwört­liche Ausnahme, die die Regel bestätigt.

An dem Punkt setzen die Demokraten im Us-kongress an: Die Abschaffun­g der „qualified immunity“gehört, neben einem Verbot von Würgegriff­en, zu den zentralen Punkten ihres neuesten Reformvors­chlags. Im Repräsenta­ntenhaus hat der Entwurf im März eine Mehrheit bekommen. Ob er auch den Senat passiert, ob zumindest eine abgewandel­te Version Gesetzeskr­aft erlangt, steht auf der Kippe.

Philonise Floyd, einer der Brüder George Floyds, hat nach dem Schuldspru­ch gegen Chauvin in einem Meinungsbe­itrag die Frage gestellt, ob das Urteil eine neue Ära einläute, eine „Ära der Rechenscha­ftspflicht“für Police Department­s.

Die Antwort hat er offengelas­sen. „Wir hoffen und beten“, schrieb Philonise Floyd.

„Schon wenn es so aussieht, als habe jemand eine Beule in der Jacke, werden Polizisten nervös.“

Chuck Wexler, Direktor des Police Executive Research Forum

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FOTO: ADAM DELGIUDICE/AFP Unterstütz­er der „Black Lives Matter“-bewegung protestier­en gegen das diskrimini­erende Vorgehen der Polizei gegenüber Afroamerik­anern.

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