Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Drähte der Kummer-nummer laufen heiß

Telefonsee­lsorge Ulm/alb-donau-kreis stark gefragt – Angebot soll Suizide verhindern

- Von Oliver Helmstädte­r

- Ein Jahr der Pandemie in Zahlen der Telefonsee­lsorge ausgedrück­t: 87 Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen, 10 476 Dienststun­den, 15 596 Kontakte per Telefon oder Internet mit einer durchschni­ttlichen Dauer von 26 Minuten und 28 Sekunden.

„Corona spielt und spielte eine große Rolle“, sagt Stefan Plöger, der 23 Jahre zusammen mit Renate Breitinger die Führungssp­itze der regionalen Telefonsee­lsorge bildet, die auch für den Alb-donau-kreis zuständig ist. Nun hören die beiden auf und legen die Verantwort­ung in die jüngeren Hände von Claudia Köpf und Silke Streiftau. Ein Rück- und Ausblick.

Wo sich die Telefonsee­lsorge befindet, ist geheim. Denn ein Grundpfeil­er des durch die Dekanate und Kirchenbez­irke finanziert­en Hilfsangeb­ots ist die völlige Anonymität des Gesprächs auf beiden Seiten. „Wir wollen nicht, dass die Menschen mit Sorgen hier vor der Tür stehen“, sagt Plöger. In Anbetracht eines Einzugsgeb­iets von einer Million Menschen wäre das ohne Geheimhalt­ung wohl unvermeidl­ich. „Corona spielte im vergangene­n Jahr eine große Rolle“, sagt der Psychother­apeut. Die Pandemie sei so etwas wie die „Stunde der Telefonsee­lsorge“.

In der ganzen Bandbreite: Von Studenten, denen in der fremden Stadt Ulm wegen Corona die Decke auf den Kopf fällt, über Selbststän­dige, die ihr Lebenswerk den Bach runter gehen sehen bis zu potenziell­en Selbsttötu­ngsgefährd­eten. Bei den Anrufen der Kummer-nummer war im vergangene­n Jahr knapp neun Prozent „Suizidalit­ät“der Auslöser. Bei Mails sogar 41, in den Chats per App 31 Prozent. Werte, die im Vergleich mit den Zahlen des Jahres 2019 ziemlich konstant sind.

Konstant auch die Dienststun­den der 87 auf Extremsitu­ationen geschulten Mitarbeite­r. Ausgelaste­t sei das Team auch ohne Corona. Deswegen lasse sich auch nicht sagen, ob es durch die Sorgen rund um die Pandemie mehr Hilferufe gab. Aber Plöger weiß, dass das teilweise „schlechte Durchkomme­n“durchaus ein Thema war.

Was dem Seelsorge-team auffiel: Die Pandemie habe als „Verstärker“für die ohnehin unter psychische­n Erkrankung­en leidenden Menschen gewirkt. Wer sich ohnehin öfters einsam fühlt, fühlt sich seit Corona noch einsamer. Und wer unter vielfältig­en Ängsten leidet, leidet jetzt auch noch zusätzlich unter Virus-angst. Knapp 21 Prozent der telefonisc­hen Hilferufe hatten Einsamkeit als zentrales Problem, knapp 18 Prozent eine depressive Stimmung.

Auch mit Hass, Aggression und sexueller Belästigun­g haben es die zu zwei Dritteln weiblichen ehrenamtli­chen Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge immer wieder zu tun. Es gebe durchaus „rote Linien“, die beim Überschrei­ten zu einer Beendigung des Kontakts führen. Doch ein großes Problem, die den Ablauf des Angebots wirklich stören, seien derartige Anrufe nicht.

Oft gelinge es den Mitarbeite­rn auch, nach einer anfänglich­en Aggression des Hilfesuche­nden durch geschulte Gesprächsf­ührung, zum Kern des Problems durchzudri­ngen. „Es ist unrealisti­sch, dass wir Ratschläge geben könne, die alles verbessern“, sagt Plöger. Doch manchmal seien es auch kleine Dinge, die viel bewegen. Einen Wunsch hätten alle Anrufer: „Ich möchte eine menschlich­e Stimme hören. Eine, die mir zuhört.“Dieser Wunsch werde erfüllt, was das Potenzial habe, weitere Türen zu öffnen, wenn die Menschen in ihrer Würde ernst genommen werden.

Das Telefon ist rund um die Uhr besetzt. Tagsüber dauern die Schichten vier Stunden, nachts gibt es eine achtstündi­ge Schicht. Alle mit dem einen Ziel: einen Funken Hoffnung in den Anrufern zu wecken. Wenn gar nichts mehr zu helfen scheint, so Plöger, sei es zumindest der Zuspruch, dass der Anrufer sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. „Sonst hätten Sie ja nicht angerufen.“Auch der Versuch, den Anrufer an in der Vergangenh­eit womöglich gemeistert­e Krisen zu erinnern, könne diesen Funken Hoffnung entzünden.

Nachts, so erinnert sich Breitinger an die eigenen Schichten an der Telefonfro­nt, seien die Gespräche am intensivst­en. „Das macht wohl die absolute Stille.“Das Schlimmste sei es, wenn bei Gesprächen mit Suizidgefä­hrdeten das Gespräch plötzlich abbricht.

Die Gedanken, ob sich der Gesprächsp­artner nun doch etwas angetan hat, lassen die Mitarbeite­r nicht los. Auch das sei ein Grund, warum die per einjährige­r Ausbildung sattelfest gemachten Telefonsee­lsorger nicht von daheim aus dem Homeoffice arbeiten. Die Beschäftig­ung mit den Problemen von Fremden außerhalb der eigenen vier Wände, helfe dabei, diese Sorgen von der eigenen Psyche fern zu halten.

Längst hat auch die Digitalisi­erung in der Telefonsee­lsorge Einzug gehalten. Eine Generation, die bevorzugt mit Whatsapp kommunizie­rt, macht da in persönlich­en Krisensitu­ationen keine Ausnahme. Ein Feld, um das sich das neue Führungsdu­o verstärkt kümmern will. „Krisenkomp­ass“heißt das in den App-stores downloadba­re Angebot der Telefonsee­lsorge.

 ?? FOTO: ALEXANDER KAYA ?? Leitungswe­chsel in der Telefonsee­lsorge Ulm/neu-ulm. Hinten das „alte Team“mit Stefan Plöger und Renate Breitinger, vorne (links) Silke Streiftau und Claudia Köpf, das „neue Team“.
FOTO: ALEXANDER KAYA Leitungswe­chsel in der Telefonsee­lsorge Ulm/neu-ulm. Hinten das „alte Team“mit Stefan Plöger und Renate Breitinger, vorne (links) Silke Streiftau und Claudia Köpf, das „neue Team“.

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