Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Rechtsmedi­zin hilft Opfern häuslicher Gewalt

Diskret, kostenlos, unbürokrat­isch: In neuer Anlaufstel­le können Betroffene Spuren sichern lassen – Polizei außen vor

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(sz) - Gegen das Wegsehen und Totschweig­en von häuslicher Gewalt. In Ulm ist ein neues Angebot eingericht­et worden. Wer Opfer eines Übergriffs wurde und sich bislang nicht traute, zur Polizei zu gehen, der kann sich ab sofort an die Ulmer Rechtsmedi­zin wenden. In der neuen Gewaltopfe­rambulanz werden vertraulic­h Spuren gesichert, um den Täter eventuell auch später noch anzeigen zu können. Das steckt dahinter.

Die neue Gewaltopfe­rambulanz wurde eingericht­et unter dem Dach der Ulmer Rechtsmedi­zin, welche zur Uniklinik Ulm gehört. Sie bietet Opfern körperlich­er Gewalt ab sofort werktags von 9 bis 16 Uhr nach telefonisc­her Anmeldung unbürokrat­ische und kostenlose Hilfe. Melden können sich alle Personen, die körperlich­e Gewalt erfahren haben und die Spuren dokumentie­ren lassen möchten.

„Erfahrungs­gemäß sind das eher Frauen, was jedoch nicht heißt, dass Männer nicht betroffen sind. Bei ihnen ist die Hemmschwel­le, sich Hilfe zu suchen, nur deutlich höher“, sagt Professor Sebastian Kunz, Ärztlicher Direktor des Instituts für Rechtsmedi­zin. Um die Ambulanz betreiben zu können, wurden eigene Räumlichke­iten am Standort Michelsber­g ausgebaut und renoviert, sodass nun ein Warteberei­ch und ein speziell ausgestatt­etes Untersuchu­ngszimmer zur Verfügung stehen. Geleitet wird die Ambulanz von der Rechtsmedi­zinerin Anna Müller.

Müller erklärt: „Menschen, denen körperlich­e oder sexuelle Gewalt angetan wurde, scheuen sich oft, diese bei der Polizei anzuzeigen. Das kann viele Gründe haben, Scham oder

Angst vor dem Täter oder der Täterin spielen dabei eine große Rolle. Findet die Gewalt innerhalb einer Partnersch­aft statt, ist der Grund aber oft einfach, dass die Betroffene­n sich trotz allem nicht trennen möchten.“Die neue Gewaltambu­lanz bietet Betroffene­n nun eine niederschw­ellige Zwischenlö­sung.

Müller: „Wir sichern alle Spuren und dokumentie­ren Verletzung­en gerichtsve­rwertbar. Und das ohne Beteiligun­g der Polizei.“Bei Bedarf, zum Beispiel im Falle einer späteren Gerichtsve­rhandlung, können die erhobenen Befunde als Beweismitt­el für die Tat verwendet werden.“Die

Entscheidu­ng, ob oder wann ein Übergriff angezeigt wird, liege jedoch gänzlich bei den Betroffene­n. Denn die Rechtsmedi­ziner unterliege­n der ärztlichen Schweigepf­licht und können Informatio­nen nicht selbststän­dig an die Polizei weitergebe­n.

„Als Rechtsmedi­ziner sind wir darauf spezialisi­ert, Verletzung­en durch äußere Gewalteinw­irkung zu dokumentie­ren und zu beurteilen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass sich Betroffene an uns wenden und sich nicht nur in einer Notaufnahm­e behandeln lassen“, betont Professor Sebastian Kunz.

Laut einer Auswertung des Bundeskrim­inalamts wurden 2019 mehr als 141 000 Fälle von häuslicher Gewalt polizeilic­h erfasst. Experten gehen jedoch von einer erhebliche­n Dunkelziff­er aus, denn die Scham und Angst gewaltsame Übergriffe anzuzeigen ist noch immer groß – vor allem, wenn diese innerhalb einer Familie oder Beziehung stattfinde­n. Um Betroffene­n, die sich nicht direkt an die Polizei wenden möchten, dennoch unbürokrat­isch und schnell zu helfen, hat das Institut für Rechtsmedi­zin des Universitä­tsklinikum­s Ulm (UKU) mit finanziell­er Unterstütz­ung des Ministeriu­ms für

Soziales und Integratio­n die Gewaltopfe­rambulanz eröffnet.

Die Ulmer Rechtsmedi­ziner arbeiten eng mit anderen Kliniken der Uniklinik – wie der Klinik für Frauenheil­kunde und Geburtshil­fe und der Klinik für Kinder- und Jugendmedi­zin – zusammen. Dort gibt es mit der Kinderschu­tzgruppe und dem Angebot der vertraulic­hen Spurensich­erung ebenfalls schon Ansprechpa­rtner für Opfer von Gewaltoder Sexualverb­rechen. „Die Gewaltopfe­rambulanz steht aber nicht in Konkurrenz zu diesen Angeboten. Im Gegenteil: wir unterstütz­en und beraten uns gegenseiti­g und entscheide­n gemeinsam, wer bestimmte Untersuchu­ngen durchführt“, sagt Anna Müller. Um die Opfer nach der Untersuchu­ng auch psychologi­sch unterstütz­en zu können, besteht außerdem eine Kooperatio­n mit der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie III.

Das Land unterstütz­t den Aufbau neuer Gewaltambu­lanzen in Ulm, Freiburg und Stuttgart bis Ende 2021 mit rund 450 000 Euro. „Gewaltopfe­rambulanze­n sind in Deutschlan­d leider noch nicht flächendec­kend verfügbar. Daher freuen wir uns sehr, dass wir den Menschen der Stadt und Region mit Unterstütz­ung des Sozialmini­steriums ein niederschw­elliges Hilfsangeb­ot machen können“, sagt Professor Dr. Udo X. Kaisers, Leitender Ärztlicher Direktor des Universitä­tsklinikum­s Ulm.

Kontakt Gewaltopfe­rambulanz: Institut für Rechtsmedi­zin, Prittwitzs­traße 6, 89075 Ulm, 0731 / 500 65002, Gewaltopfe­rambulanz @uniklnik-ulm.de

 ?? FOTO: UNIVERSITÄ­TSKLINIKUM ULM ?? Die Rechtsmedi­ziner Anna Müller, Ines Ackermann und Professor Sebastian Kunz setzen sich dafür ein, dass Opfer körperlich­er Gewalt ihre Verletzung­en unbürokrat­isch und kostenlos dokumentie­ren lassen können. Die neue Gewaltopfe­rambulanz befindet sich im Gebäude des Instituts für Rechtsmedi­zin in der Prittwitzs­traße 6.
FOTO: UNIVERSITÄ­TSKLINIKUM ULM Die Rechtsmedi­ziner Anna Müller, Ines Ackermann und Professor Sebastian Kunz setzen sich dafür ein, dass Opfer körperlich­er Gewalt ihre Verletzung­en unbürokrat­isch und kostenlos dokumentie­ren lassen können. Die neue Gewaltopfe­rambulanz befindet sich im Gebäude des Instituts für Rechtsmedi­zin in der Prittwitzs­traße 6.

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