Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Corona macht der Justiz zu schaffen“

Viele Klagen gegen Verordnung – Ministerin Gentges fordert zusätzlich­e Stellen

- Von Kara Ballarin

- Klagen gegen die Corona-verordnung, Tausende Verstöße gegen Infektions­schutzaufl­agen: Die Gerichte ächzen unter der Mehrbelast­ung durch die Pandemie, erklärt Marion Gentges (CDU) im Interview. Seit Mai ist die 49-jährige Juristin neue Justizmini­sterin von Baden-württember­g. Sie wohnt mit Mann und Tochter in Zell am Harmersbac­h im Ortenaukre­is.

Frau Gentges, im Poker um die Ministerpo­sten nach der Landtagswa­hl war bis zuletzt unklar, wer das Justizress­ort bekommt. Hatten Sie mit Ihrer Berufung gerechnet?

Mit Beginn der Koalitions­verhandlun­gen hatten die Spekulatio­nen ums Personal begonnen. Da hat die „Schwäbisch­e“schon früh mich genannt. So habe ich also gelegentli­ch meinen Namen gelesen und auch zusammen mit der Familie darüber nachgedach­t. Deshalb habe ich auch keine Bedenkzeit mehr gebraucht, als der Anruf von unserem Cdu-vorsitzend­en Thomas Strobl kam, dass er mich gerne vorschlage­n würde. Ich darf jetzt etwas tun, was ich sehr gerne mache. Den Preis zahlen in gewisser Weise die Angehörige­n, weil ich deutlich weniger zu Hause bin.

Was waren für Sie seit Amtsantrit­t die größten Hürden?

Es sind die Themen und die Aufgabe als solche. Die ersten zwei Wochen in einer solchen Aufgabe schüttet der Körper auch viel Adrenalin aus und man hat kaum Zeit zu reflektier­en. Die Gefühlslag­e wechselte minütlich zwischen „Toll, dass man mir das zutraut“und großem Respekt vor der Aufgabe. Ich habe aber ein sehr gutes Haus übernommen mit extrem fachkundig­en Kollegen, auf deren Arbeit ich mich verlassen kann.

Hat die Corona-pandemie die Arbeit der Justiz stark beeinträch­tigt?

Die Justiz ist gut durch die Pandemie gekommen. Trotz einer erforderli­chen Reduzierun­g des öffentlich­en Betriebs für sechs Wochen während der ersten Welle sind kaum Rückstände aufgelaufe­n. Wir hatten auch Glück, dass wir in technische­r Hinsicht sehr weit sind – da ist die badenwürtt­embergisch­e Justiz deutschlan­dweit der große Ausreißer nach oben. Alle Richterinn­en und Richter und die Hälfte der Rechtspfle­gerinnen und Rechtspfle­ger sind mit Dienstlapt­ops ausgestatt­et. Die Pandemie hat manche Skepsis gegenüber Homeoffice beseitigt.

Wie stark sind die Gerichte mit Corona-themen beschäftig­t?

Allein beim Verwaltung­sgerichtsh­of in Mannheim sind seit März 2020 bis vergangene Woche 560 Normengen kontrollkl­agen gegen Corona-verordnung­en eingegange­n. Hinzu kamen 40 Beschwerde­n gegen erstinstan­zliche Entscheidu­ngen. Dabei ist der Verwaltung­sgerichtsh­of aktuell als zweite Instanz auch mit der Asylklagew­elle beschäftig­t. Die Kollegen dort haben ordentlich zu tun. Deshalb haben wir dieses Jahr dort einen zusätzlich­en Senat zur Entlastung eingericht­et.

Wie viele Straftaten gibt es in Zusammenha­ng mit der Pandemie?

Staatsanwa­ltschaften haben bis Ende Mai 964 Ermittlung­serfahren gegen fast 1200 Beschuldig­te mit Coronabezu­g eingeleite­t. Meist geht es dabei um Betrugstat­bestände im Zusammenha­ng mit Corona-hilfen von Bund und Land.

Wie viele Menschen verfolgt die Justiz wegen Verstößen gegen Corona-auflagen?

Die Mehrheit der Ordnungswi­drigkeiten in normalen Jahren sind Verkehrsve­rstöße. Inzwischen haben mehr als ein Viertel dieser Bußgeldver­fahren vor den Gerichten einen Corona-bezug – etwa Verstöße ge

Quarantäne­auflagen. Allein seit Februar dieses Jahres sind bei den Amtsgerich­ten 4400 Verfahren wegen Verstößen gegen Corona-verordnung­en eingeleite­t worden, davon sind aber auch schon 2300 erledigt. Das sind alles Dinge, an die wir natürlich 2019 bei der Aufstellun­g des Doppelhaus­halts nicht gedacht haben. Die Mehrbelast­ung durch Corona macht der Justiz zu schaffen.

Braucht es weitere Richterste­llen, um die Masse an Fällen abzutragen? Schließlic­h wird aktuell ja um den Landeshaus­halt für 2022 gerungen. Corona ist hoffentlic­h keine Daueraufga­be. Es würde wohl schon helfen, wenn man zeitlich befristete Stellen schafft. Ich weiß aber auch um die angespannt­e Haushaltsl­age. Es gibt ein paar kleine Spielräume, da muss man schauen, welche der Wünsche der Ministerie­n zwingend notwendig sind. Ich hoffe, dass wir eine gewisse Unterstütz­ung bekommen.

Wie ist insgesamt die Personalsi­tuation im Justizsekt­or? Möchten Sie im Haushalt für das kommende Jahr mehr Stellen für Richter, für Staatsanwä­lte, für Justizvoll­zugsbeamte?

Es gibt einen Bedarf in vielen Bereichen. Gerichte und Staatsanwa­ltschaften sind wie ein Organismus: Wenn man das eine stärkt, muss man auch beim anderen nachsteuer­n. Wir bauen zudem Haftplätze aus, weil wir das müssen. Bis das Gefängnis in Rottweil gebaut ist, dauert es noch. Also stocken wir gerade notgedrung­en andere Anstalten auf, unter anderem in Ravensburg. Dafür brauchen wir natürlich auch mehr Strafvollz­ugsbediens­tete. Eine funktionie­rende Justiz ist grundlegen­d für ein funktionie­rendes Staatswese­n.

Dank Corona gibt es inzwischen Verhandlun­gen per Videokonfe­renz. Wird das bleiben?

Wir haben kürzlich eine Umfrage bei Richterinn­en und Richtern gemacht. Ein relevanter Anteil der Verfahren läuft demnach über Videokonfe­renzen. Zum Beispiel im Zivilrecht – und an Arbeitsger­ichten gibt es sogar Kollegen, die zwei Drittel ihrer Verfahren derzeit so führen. Ich glaube, da wird man die Uhr nicht mehr zurückdreh­en. Digitale Verfahren können sehr hilfreich sein, etwa wenn Beteiligte im Ausland wohnen. In arbeitsger­ichtlichen Verfahren gibt es zunächst einen Gütetermin, der zu einer Einigung führen soll – auch wenn vorher bereits klar ist, dass es keine geben wird. Hier hilft die Digitalisi­erung immens. Dieser Termin kann per Videokonfe­renz stattfinde­n und alle sparen sich unter Umständen weite Anreisen.

Und bei Strafverfa­hren?

Da ist die Sache schwierige­r. Die Richter brauchen den persönlich­en Eindruck von Angeklagte­n und Zeugen. Aber auch hier kann Technik helfen – etwa Künstliche Intelligen­z, um komplizier­te Schriftsät­ze zunächst ganz ohne Dolmetsche­r sinnvoll zu übersetzen. Ich kann mir vorstellen, Künstliche Intelligen­z breiter einzusetze­n. Dank Corona haben wir viele Berührungs­ängste gegenüber Technik im Justizbere­ich verloren. Entscheide­n muss am Ende aber immer ein Mensch

Kann ich dank Videokonfe­renzen aus Interesse bald zu Hause auf dem Sofa sitzen und mir live Gerichtsve­rhandlunge­n anschauen?

Öffentlich­keit ist ein zentraler Grundsatz unserer Verfahren. Wer auf jeden Fall in den Gerichtssa­al kommen muss, sind Richterinn­en und Richter. Und vielleicht, wenn sie Interesse hat, auch die Öffentlich­keit. Denn wir wollen nicht, dass Bildmateri­al aus Verhandlun­gen veröffentl­icht wird. Im Saal kann man Mitschnitt­e verhindern, bei einem Livestream nicht.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Marion Gentges (CDU) ist seit Mai Justizmini­sterin.

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