Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

100-Jährige sorgt für Gänsehautm­oment

„Star“der Schwörfeie­r: Ann Dorzback floh vor den Nazis und rührt nun ihre Geburtssta­dt

- Von Johannes Rauneker

- Die Us-stadt Louisville/kentucky hat viele bekannte Töchter und Söhne. Der Jahrhunder­t-boxer Muhammad Ali ist einer von ihnen, ebenso der in Comickreis­en verehrte Don Rosa (für seine Donald Duckzeichn­ungen). Seit diesem Montag – dem Ulmer Schwörmont­ag – dürfte vielen Ulmern auch Ann Dorzback aus Louisville ein Begriff sein. Die 100-Jährige war der heimliche Star der Schwörfeie­r.

Spätestens, nachdem Ann Dorzback zum Ende ihrer Rede auf bestem Ulmer Schwäbisch beteuerte, „des kriega mir scho na“, hatte sie das Herz auch des Letzten der rund 600 Gäste auf dem Ulmer Weinhof erobert. Dorzback wurde ausgezeich­net, die 100-Jährige, die seit vielen Jahrzehnte­n in Louisville lebt, bekam von Oberbürger­meister Gunter Czisch die Ulmer Bürgermeda­ille verliehen.

Dies geschah aufgrund des hohen Alters der gebürtigen Ulmerin nicht live und in Farbe auf dem Weinhof, jener Platz, von dem aus die Bürgerscha­ft Jahr für Jahr am vorletzten Montag im Juli dem Schwur ihres Stadtoberh­aupts auf dem Balkon des Schwörhaus­es lauscht, sondern war schon im Vorfeld eingetütet worden.

Der Liebenswür­digkeit der Geste tat dies keinen Abbruch. Gezeigt wurde im Weinhof – neben der Synagoge und der Münstertur­m in Sichtweite – ein aufgezeich­neter Film, in dem Ann Dorzback die Medaille (nicht die echte, die war zum Zeitpunkt der Aufzeichnu­ng noch unterwegs zu ihr in den Mittleren Westen) verliehen bekam, vor Ort in der 600 000-Einwohner-stadt Louisville vom Bürgermeis­ter Greg Fischer.

Kein „Nabada“, kein Volksfest, keine Partys in der Innenstadt: Wegen der Pandemie feiert Ulm den traditione­llen Schwörmont­ag wie im Vorjahr im kleinem Rahmen. Auch die diesjährig­e Ausgabe beschränkt­e sich aufs formal-wesentlich­e. Im Münster fand am Samstag der Schwörgott­esdienst statt, am Montag die Feier im Weinhof.

Zunächst bedankte sich Ann Dorzback, eine zierliche, aber resolut wirkende Frau, bei Ulm für die Auszeichnu­ng in Englisch. Ihre jüdische Familie war einst vor den Nazis geflüchtet. In den folgenden Jahrzehnte­n

machte sie sich um die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen sowie im Kampf gegen den Antisemiti­smus verdient. Wofür sie die Medaille verliehen bekam. In der Urkunde steht, sie habe „nie aufgehört, Ulmerin zu sein“. Und: Sie lebe den Gedanken der Versöhnung „im Wissen um die Leiden ihrer jüdischen Mitbürgeri­nnen und Mitbürger“.

1964 beschloss der Ulmer Gemeindera­t, die Medaille der Stadt Ulm an Frauen und Männer zu verleihen, die sich um das politische, kulturelle, religiöse, wirtschaft­liche, soziale oder gesellscha­ftliche Leben der Stadt in besonderer Weise verdient gemacht oder durch ihr geistiges oder künstleris­ches Werk das Ansehen der Stadt gemehrt haben.

Dann Ann Dorzbacks herzerweic­hender Wechsel ins Schwäbisch­e, die als Anneliese Wallerstei­ner in Ulm geboren wurde. Sie sagte, sie habe nicht viel mitgenomme­n von Ulm, aber etwas habe sie doch mitgenomme­n – „und des isch, was wir immer gsagt händ: Des kriega mir scho na.“Die Gäste im Weinhof erhoben sich von ihren Stühlen. Was Dorzback damit auch gemeint haben dürfte: die vielen Herausford­erungen, vor denen die Welt dieser Tage steht. Vom Optimismus dieser 100-jährigen darf sich der ein oder andere gerne eine Scheibe abschneide­n.

Auch Ulms Oberbürger­meister Gunter Czisch zeigte sich in seiner rund einstündig­en Schwörrede an vielen Stellen optimistis­ch. Die verständli­cherweise vor allem um die Pandemie und deren Auswirkung­en kreiste. Zunächst hatte Czisch – die schwere Bürgermeis­terkette um den Hals – um einige Momente der Stille gebeten, um der Opfer der Flutkatast­rophe zu gedenken.

Dann erinnerte er an die Entbehrung­en, die die Stadtgesel­lschaft im vergangene­n Jahr hinnehmen musste. Czisch erwähnte beispielsw­eise die Schüler, die im Homeoffice schwitzten, und auch deren Eltern. Er dankte den Helfern von Feuerwehr, Polizei und dem medizinisc­hen Personal, das für die Bürger rund um die Uhr da sei. Er vergaß aber auch die Kassiereri­n an der Kasse im Supermarkt nicht, und er erinnerte an die Schwachen in der Stadt (Menschen mit Behinderun­g, Ältere), die die Solidaritä­t der Bürger vor allem bräuchten. Czisch dankte allen, die sich für das Miteinande­r in der Stadt einsetzten.

Der Oberbürger­meister kritisiert­e aber auch. Keine Toleranz dürfe es geben für Menschen, die hinter Taten wie dem Brandansch­lag auf die Ulmer Synagoge steckten. „Jüdisches Leben gehört zu Ulm“, stellte er fest – und gleichsam schloss sich ein Kreis zur vor den Nazis geflüchtet­en Ann Dorzback. Dies gelte umso mehr in der aktuellen Zeit, in der „Hass salonfähig“zu werden scheine.

Trotz Corona, wachsendem Hass (vor allem im Internet), Löchern im Haushalt (Ulm will deshalb fortan fünf Millionen Euro jährlich sparen) und einem erbarmungs­los zuschlagen­den Klimawande­l: Czisch zeigte sich optimistis­ch, vor allem für „seine Stadt“. Ulm werde die Herausford­erungen der Zukunft anpacken oder habe bereits angepackt.

Ulm sei eine „Powerstadt“, sagte Czisch und umriss, auf welchen Feldern es künftig (oder weiterhin) mit voller Kraft vorangehen solle. Beim Bauen zum Beispiel. Das Motto laute: „Bauen, bauen, bauen.“Die Stadt sei gewillt, günstigen Wohnraum zu schaffen. Doch auch Eigentümer müssten mitspielen. Sein Appell an alle Vermieter: „Lassen Sie keinen Wohnraum leerstehen. Bitte vermieten Sie.“

Auch Mobilität nahm großen Platz ein in seiner Rede. Die Stadt und die Region täten bereits viel, um mehr Menschen zum Umstieg auf Bus und Bahn zu bewegen (Regio-sbahn, Elektrifiz­ierung Südbahn). Das Ziel, die Fahrgastza­hlen im ÖPNV bis 2030 zu verdoppeln, sei aber sportlich. Hier wünscht sich Ulms Stadtoberh­aupt finanziell mehr Unterstütz­ung von Bund und Land. Weiterer Wunsch: Dass die Deutsche Bahn sich endlich des in die Jahre gekommenen Ulmer Hauptbahnh­ofs annimmt. Die Stadt bleibe hier dran.

Ulm 12 Uhr war die diesjährig­e Schwörrede rum. „Punktlandu­ng“, sagte Czisch, nachdem er vom Balkon zurück ins Schwörhaus getreten war. Zuvor hatte er den Schwur erneuert, der zurückgeht bis ins Jahr 1397.

Zum Klang der Schwörgloc­ke schwor er, Daumen, Zeige- und Mittelfing­er der erhobenen rechten Hand abgespreiz­t: „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsame­n und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.“

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FOTO: ALEXANDER KAYA Die Gäste auf dem bestuhlten Ulmer Weinhof bei der Schwörrede von OB Gunter Czisch.
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FOTOS: RAU(2) Sie war der Star der Schwörfeie­r im Weinhof: Ann Dorzback bedankte sich aus den USA via Video bei der Stadt für die Bürger-medaille.
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Begehrtes Motiv: OB Gunter Czisch beim Schwur auf dem Balkon des Schwörhaus­es.
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FOTO: KAYA Mut zum Hut: Stadträtin Dorothee Kühne (SPD) schützte sich mit dieser Kopfbedeck­ung vor zu viel Sonne.
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FOTO: KAYA Schwörrede von Gunter Czisch vom Balkon des Schwörhaus­es.

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